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Wann endet die Neuzeit?

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DAS WELTREICH. Wagnis und Auftrag Europas im 16. und 17. Jahrhundert. Von Alexander Ran da. 76 Seiten, 39 Abbildungen. Mit Karten. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, 1962. Preis 130.70 S.

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DAS WELTREICH. Wagnis und Auftrag Europas im 16. und 17. Jahrhundert. Von Alexander Ran da. 76 Seiten, 39 Abbildungen. Mit Karten. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, 1962. Preis 130.70 S.

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CAROLO QUINTO IMPERANTE... Schon einmal durften wir an das so über-chriebene Sonett von Heredia erinnern, welches die Märchenabenteuer der Entdeckungsfahrten hervorzaubert. Und abermals liegt ein Buch vor uns, beherrscht von denselben Traumgesichtern neuer Länder, neuer Meere, neuer Gestirne. Kein Wunder übrigens. Nicht nur die Vierhundertjahrfeier seines Todes gibt der heutigen Geschichtsschreibung Anlaß, von Karl V. zu reden. Auch die Hauptanliegen •eines Lebens stehen heute auf der Tagesordnung. Kann in Europa eine Führung bestehen? Ein Richter auf Erden? Kann das sein, wenn Europa nicht einen Glauben hat? Kann und soll Europa andere Weltteile leiten ... ? Vieles ist heute vor unseren Augen zusammengebrochen, was zu Karls Zeiten gegründet wurde; schon spricht man vom Ende der Neuzeit, und Randa benennt seine Einleitung mit diesem Stichwort. Da besinnt man sich denn, auf den letzten gekrönten Kaiser der Römer; und wir werden von ihm noch hören.

Doch während wir damals eine Lebensgeschichte Karls V. besprachen, ist hier die Rede von dem Kolonialreich, das unter seiner Regierung zumeist aufgebaut wurde. Und gleich eins der Verdienste von Ran-das Buch ist eben dies: daß er uns beweist, wieviel an dem hispanischen Kolonialreich unter Karl V. geschaffen worden ist. Sieht man da näher zu — dann verschlägt es einem den, Atem. Wie? 1492 segeln im Dienst von Karls Großeltern ein paar kleine Holzschiffe und erreichen die Inseln des Karibischen Meeres; 1519, während Karl römischer Kaiser wird, reitet Hernand Cortez mit 16 Pferden die Berge von Anahuac hinan und erobert das Kaiserreich von Mexiko; 1535 wird in Mexiko das erste Buch gedruckt — die „Himmelsleiter“ des byzantinischen Mystikers Johannes; 1551 gründet Karl V. die Universität Mexiko! (Und es gibt viele Leute, die sich nicht fassen können vor Staunen, wenn in derselben Zeit von zwei Generationen in Sibirien neue Hochschulen entstehen — mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts.)

Der Autor dürfte sich kaum täuschen In seiner offenen Uberzeugung, dem Großteil der Leser durchaus Neues zu bringen. Es ist wahrlich der Mühe wert, aus diesem Buch zu erfahren, was das österreichische Kolonialreich eigentlich war. Wir sagen: das österreichische! — denn Randa macht deutlich, wie zu dem spanischen — und ine Zeitlang: spanisch-portugiesischen — Reichsbewußtsein die ideologische Verherrlichung der Dynastie gehörte. Und deren richtiger, geschichtlicher Name ist nun einmal „Österreich“. Was lernen wir da nicht alles über das Weltreich der österreichischen Primogenitur! Erstens einmal die unerhörten seemännischen Leistungen der MSnner, die auf Segelschiffen die unbekannten Weltmeere absuchten, unbekannte Weltteile erstiegen; die unvorstellbaren Leiden der Entdeckung und Erobe-\rung. Harte Männer? — Freilich, und was Wunder, wenn solche Männer Scheußliches an den Eingeborenen taten. Doch nun: die Kolonialgesetzgebung des Hauses Österreich. „Si monumentum requiris, circum-spicc“: — In Lateinamerika gibt es Eingeborene, in manchem Land in der Mehrheit. Es gibt sogar Nachkommen des indianischen Adels — und doch ist es immer die Oberklasse, die ein halbwegs kluger Eroberer zunächst abschöpft. Und dann die soziale Gesetzgebung: Philips II. Festsetzung des Achtstundentages — nur für die hochwichtigen Spezialisten der Rüstungsindustrie, versteht sich, aber immerhin; nicht ohne Arbeitszeitbestimmungen auch für die Eingeborenen. Was wird da noch alles berichtet? Die Erfolge der Missionsarbeit in Afrika — katholische Könige am Kongo; das staatsrechtlich korrekte Regime der Austrias in Portugal, welches in Südamerika die Portugiesen direkt förderte; der Aufbau der Philippinen; die hispanische Chinamission ...

Ja, es ist ein Heldenlied, ein Preislied, welches Randa hier zu hören gibt. Er weiß das recht gut und vergißt als guter Historiker nicht, Vorbehalte anzubringen: Er wolle gewiß nicht alles Spanische loben, die Greuel der Eroberung verhüllen... Aber man merkt ihm die Liebe zu seinen Helden an — und die Freude an der Demolierung der spanienfeindlichen „Schwarzen Legende“. Woher kommt denn nun die? Erstens von Europäern, die aus den verschiedensten Ursachen dagegen waren: als Antiklerikale gegen das katholische Reich und seine Missionen — als Liberale gegen eine österreichische Monarchie, als Franzosen gegen Spanien, als Engländer gegen ein anderes Kolonialreich ... Zweitens von Amerikanern, die ja bekanntlich grundsätzlich antikolonial sind. Sie können es auch sein — denn jedes Kind weiß, daß der „Letzte Mohikaner“ ja eben tot ist. Und Sitting Bull, der letzte Führer einer Befreiungsfront in Nordamerika, lebt auch nicht mehr ...

Es versteht sich, daß es dem Europäer schwer fällt, gegenüber mancher nordamerikanischer Ideologie nicht bitter zu werden. Es will uns aber scheinen, als hätte Randa dieser Versuchung besser widerstehen sollen. Denn erstens: jedermann weiß, welche Bewandtnis es heutzutage mit Anti-USA-Weudungen hat. Zweitens aber, und sollte man dem entgegenhalten, daß die geschichtliche Wahrheit sich um aktuelle Einstellungen nicht kümmert — auch gegen die historische Methode scheint mir da gelegentlich gesündigt zu sein. Ich meine: Vergleichen darf man bekanntlich nur Vergleichbares. Mit den indianerfreundlichen Gesetzesbestimmungen des Hauses Österreich dürfte man also nicht die Praxis der Nordamerikaner (den Genozid) vergleichen, sondern deren Verfassungstext, welcher die Indianervölker den Vereinigten Staaten nicht als Staatsangehörige, sondern als unabhängige Vertragspartner gegenüberstellt.Mit der nordamerikanischen Praxis mag man die spanische Praxis in Vergleich setzen, welche denn doch genug vernichtete Kunstwerke und Schriften zu beklagen gibt...

Doch zurück von einzelnen Ausstellungen zu der Bedeutung des Buches! Sie ist hochwichtig: Wir können nur wünschen, daß Randas Erkenntnisse langsam, aber doch Allgemeingut der Gebildeten werden. Zumal der Österreicher findet hier einen Überfluß an Interessantem. Sehen wir nur etwa, wie die Streiter Karls V. seinen Doppeladler bei den Indianern schon vorfanden — als uraltes Kultsymbol, über dessen Herkunft und Sinn man wieder ganze Forschungen anstellen könnte. So etwas allein muß doch wohl den österreichischen Leser fesseln ... oder nicht? Wem also dieser Vogel nicht gefällt (doch man entschuldige seine Gestalt: Für den Flug von Apulien bis Chile braucht man eben um einen Kopf mehr), den mögen die Bilder freuen. Da sind die Kirchen, die zeigen, wie eingeborene Handwerker den Barockstil sahen; da ist das Bronzerelief, das zeigt, wie ein Neger den portugiesischen Armbrustschützen sah (siehe AbbiL düng!); da sind die Land- und Seekarten, auf denen die neuen Weltteile Gestalt annehmen ... Es ist ein spannendes Buch, das man nicht leicht aus der Hand legt; und so dürfen wir auf eine weite Verbreitung hoffen. Es ist ein schönes Buch, das Rauda hier geschrieben hat — cum ira et studio.

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