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Das letzte Gesicht

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Im Wandel- und Werdegang des menschlichen Antlitzes scheinen die Vierzigerjahre, präziser, das 40. Lebensjahr, eine entscheidende Rolle zu spielen: dieses ominöse Jahr setzt den Schlußstrich unter eine Entwicklungsphase, hinter der ein völlig neues kommt, entweder ein nicht mehr im Wesentlichen wandelbares oder ein bewußtes, gesteuertes Gesicht. Rainer Maria Rilke sagt in seinem „Laurids Brigge“, „die Menschen haben mit 40 Jahren ihr letztes Gesicht“, Harpprecht stellt fest: „Ab 40 Jahre jedenfalls könne der Mensch für sein Gesicht". Er stellt damit die Behauptung auf, daß der Mensch bis zu seinem 40. Lebensjahr irgendwie nicht für den Ausdruck seines Gesichts in letzter Instanz verantwortlich sei.

Diese These zu Ende gedacht würde aussagen, die Umwelt in der Vielzahl ihrer Erscheinungsformen, psychische und physische Komponenten, von den verschiedensten Seiten herangetragene Einflüsse, das „Leben schlechthin“, präge das Gesicht, ohne ein ins Gewicht fallendes Zutun seines Trägers. Wie es diesen Kräften, die außerhalb des einzelnen Menschen ihren Sitz haben, gefällt, präsentiert sich das Gesicht einmal so, ein andermal so, gleichsam ein Spiegel und nicht mehr, der getreulich zeigt und aufzeichnet, was außenstehende Mächte und Kräfte in eben dieses Gesicht in eben dieser oder jener Stunde, jener Minute gemeißelt haben.

Du und ich tragen also ein Antlitz, das etwas wie eine Maske ist, uns aufgesetzt. Erst das 40. Lebensjahr — ist es auch ein verflixtes? — bringt die Wende. Von diesem Zeitpunkt an ist der Mensch Herr über sein Gesicht, kann er dafür, welche „Visage“ er zur Schau trägt. Man sagt, der Charakter bestimmt jede Linie, jeden Schatten, jeden Winkel im Gesicht. Und je nach Charakter kommt dann das wohlwollende, naive, argwöhnische, überwollende, selbstgerechte, das harte Antlitz heraus.

Widerspricht das nicht der Harp- prechtschen These? Oder ist der Charakter erst mit 40 Jahren so stark ausgeprägt, daß er erst dann einem Gesicht — Gesicht zu geben vermag? Ist ein Mensch unter Vierzig Jahren vielleicht etwa gar „charakterlos“, da er seinen Gesichtszügen nicht zu gebieten imstande ist? Schauen Sie jungen Menschen ins Gesicht und Sie werden darin Wohlwollen und Übelwollen, Naivität und Argwohn, Selbst gerechtigkeit und Härte und andere Eigenschaften mehr finden. Da die Menschen bis 40 nichts für ihr Gesicht können, müssen die zur Schau getragenen Gesichter echt sein, die nach 40 zwangsläufig und folgerichtig falsch, gesteuert, bewußt gewollt sein. Man kann sein Gesicht wechseln: es kommt auf den Partner an…

Für Rilke trägt der 40jährige sein letztes Gesicht. Es ist ein Abschluß, ein Erstarren. Es ändert sich nicht mehr. Das Heranreifen hat den Zenit erreicht, die markanten Linien sind gezogen, der große Modelleur Leben legt seine Hände in den Schoß, die Arbeit ist getan. Bedeutet dieses Faktum nun absoluten Stillstand? Ja und nein! Ich bin versucht, Rilkes letztes Gesicht mit dem Spätsommer zu vergleichen. Revolutionäres, Umstürzlerisches, vom Grund auf Änderndes ist nicht mehr zu erwarten. Nur mehr ein sanftes Hinübergleiten in den Herbst, das nicht an die großen Linien rührt. So ist das mit dem letzten Gesicht. Die Zeit, ruhelos wie sie einmal ist, bastelt zwar an ihm herum, mit filigranen Werkzeugen, zieht behutsam die ersten Falten, glättet später etwaige Kanten, ebnet ein, gleicht aus, verwischt manchmal, retuschiert, beläßt aber das Wesentliche. So mag es geschehen, daß ein zur Routine gewordenes Kompliment, „Sie haben sich aber gar nicht verändert“, den Glanz der Wahrheit bekommt.

So Sie aber schon das letzte Gesicht haben, pflegen und behüten Sie es und finden Sie sich damit ab. Ein anderes werden Sie nicht finden!

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