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„Abendmahl“ des Leonardo

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Eine Art-Exhibition, seit einem Jahr auf Tournee durch die Vereinigten Staaten, zeige als besondere Sensation neben Cellinis „Salzfaß“, dargestellt von zwei goldlackierten Nackten, Leonardos Abendmahl, ebenfalls als lebendes Bild: hinter einem Vorhang würden sich, der Vorlage entsprechend, dreizehn kostümierte Männer anordnen, alle paar Minuten gehe dann vor dem Besucherstrom der Vorhang nieder, damit sie sich vor der Betrachtung durch die nächste Gruppe ein bißchen rühren und ausruhen könnten, für diese Art von Kunst werde in Amerika Eintritt gezahlt. Monate vorher seien in ... die Eintrittskarten ausverkauft gewesen.

Sowenig vermutlich die Entwicklung der Sprache bei Kindern Rückschlüsse auf die Entstehung der menschlichen Sprache zuläßt, könnte den (zwar ebenfalls auf Imitation beruhenden) Proben des Lebendigen Abendmahls beizuwohnen, nicht doch Aufschluß geben über die Entstehung des Bildes, nämlich über den Prozeß seiner Komposition?

Vielleicht, würden die von den dreizehn Herren als zeitraubend, das heißt: als zu kompliziert verworfenen Versuche, sich durch gleichzeitiges Platznehmen zu arrangieren, uns zu verstehen geben, daß Leonardo seine dreizehn Modelle gewiß nicht gleichzeitig für sich Modell sitzen ließ, unter anderem deshalb nicht, weil sich dann seine Konzentration störende Tischgespräche eingeschlichen hätten oder vom langen Zuwarten hervorgerufene, die Ausgewogenheit der Komposition gefährdende Haltungsschäden.

Vielleicht würde umgekehrt eine nacheinander erfolgende Anordnung der Truppe zu den von vielen späteren Malern übernommenen vier Dreiergruppen ihrem Chef bald so unrichtig erscheinen, wie sie dann also auch Leonardo undurchführbar erschienen wäre, weil, wiesehr diese vier Partien dann auch zusammenrückteri bzw. wie raffiniert er auch diese vier Kompositionen zu einer einzigen vereinigt hätte, wie Mauerrisse oder Narben ein unsichtbarer Abstand zwischen ihnen sichtbar bliebe, nämlich der der zwischen ihnen liegenden Zeit, als wäre dies eine Darstellung der vier Jahreszeiten!

Dann ließe vielleicht auch die Natürlichkeit, ja Selbstverständlichkeit, mit der mancher Apostelspieler in die ihm vom Bild vorgeschriebene Haltung fände, beziehungsweise die Anstrengung manches anderen, die ihm vorbildliche schwierige Haltung als die scheinbar eigene scheinbar ganz ungezwungen einzunehmen, den Beobachter der Probe draufkommen, welche von den Modellen unwillkürlich eingenommenen Gesten Leonardo ohne Abänderungen übernommen hat, welche andere er nach kleinen Dämpfungen etwas zu theatralisch geratener Einlebung in einen Jünger glücklich beibehalten hat, welche anderen aber er ihnen nach Skizzen aus dem Gedächtnis aufgezwungen, als Regisseur seines Gemäldes ihnen vielleicht sogar vorgespielt hat.

Und wenn etwa gar bei der ersten und letzten Probe Christus als letzter sich setzte, würde dem Probenzuschauer die Überraschung zuteil, daß das Zentrum des Gemäldes, auf das hin von Anbeginn sich alles ausgerichtet zu haben scheint wie Eisenspäne auf einen Magneten, ein blinder Fleck gewesen ist, bis alles um ihn herum geschaffen war, damit Er unberührt bleibe von dem kalten Schattenbild zu seiner Linken und damit sich die teils erstarrende, teils nach ihm ausgreifende Bewegung der anderen, verlang- samtoder beschleunigt von seinen •bewegenden Worten, sich nicht an ihm niederschlägt.

Am liebsten wäre es mir, die den Amerikanern zum ersten Mal vollkommen glückende Wiedergabe des „Abendmahles“ brächte zutage, daß Leonardo seinen im Gänsemarsch einziehenden dreizehn Mann sich nebeneinander niederzulassen mit einem Wink bedeutet hat und dann, von einer Seite zur anderen den Tisch abgehend und einen nach dem anderen formend wie biegsames Material, sein Traumbild von der Gründonnerstagszene mit seinen Händen in den Tag geholt und, es erwek- kend, mit Leben erfüllt hat, damit es, wieder eingeschläfert in ein Bild zurückverwandelt, ihn und die anderen überleben wird.

Die in ihrer Bewegung einhaltende Bewegung in der Hand eines von ihnen antwortet auf das erschrockene Innehalten einer Kopfwendung links oder rechts von ihm, setzt sich aber, wie eine Welle auf eine andere Welle übergreift und in dieser fortlebt, über die eigene Gruppe hinausgreifend in dem Zurückweichen oder mitfühlenden Zuströmen eines anderen Körpers fort, und so sollte da her der Arrangeur, indem er die Faltenwürfe und Gesten aufeinander abstimmte und kleinste Unstimmigkeiten austarierte, sichtbar machen können, daß dem wogenden Ahrenfeld Leonardos Tafelrunde Leonardo’sche Meeres- und Strömungsstudien zugrunde liegen.

Die aus vielen Einzelbewegungen zusammengesetzten Bewegungen der dreizehn Körper ergäben deshalb diese einzigartige disharmonisch-harmonische Gesamtbewegung, weil der Maler die Apostel sowohl als Wellenbewegung konzipiert habe als auch als verzweifelten Widerstand gegen die eine Menschenmenge überraschende und schon überrollende Flut, welche, von einem beunruhigenden, in die Herzen der Freunde wie ein schwerer Stein stürzenden Wort ausgelöst und in vielerlei Wellenkreisen und Strömungen losgebrochen, in allen bis auf einen Bewegung aufwühlt und aufbrechen läßt und sie alle mit sich fortpflanzender Betroffenheit ergreift.

So könnte die lebende Nachbildung der Hände des Originals zutage bringen, daß die vielen Apostelhände in Wahrheit die durch mehrere Phasen beobachtete Bewegung des Mastes von einem in Seenot geratenen Fischkutter wären, Reminiszenz an die Angst der Jünger auf dem See Genezareth, falls sie sich nicht sogar, bei allem Sich-Sträuben, Christi Tod anzuzeigen, als unterschiedliche Zeigerstellungen einer von Leonardo heimlich konstruierten Mondoder Schicksalsuhr erweisen würden, als ein: Die Stunde ist nahe!

Und wenn dann die dreizehn Herren zwar richtig dasäßen, aber, atmend und leicht schwankend, einen nicht vergessen ließen, daß ein lebendes Bild aus Lebenden besteht, ginge einem vielleicht auch auf, was Jesus, in Gleichnissen zu reden gewohnt, mit seinen Worten: „Dies ist mein Fleisch ... zu meinem Andenken“ gemeint hat, denn angesichts dieser leibhaftigen Männer könnte einen die der Kunst vorbehaltene Transsubstantiati- on nicht länger in die Irre führen .. Noch bin ich unter euch, so leibhaftig, wie dieses Brot und dieser Wein Brot und Wein ist, aber nicht mehr lange, daher nehmt mich jetzt in euch auf, einverleibt euch, indem ihr mit mir eßt und trinkt, mich und meine Liebe!

Damit ich, wenn ich in den Tod gehe, euch nicht auf immer genommen bin, will ich jetzt in euch eingehen, denn so wie ich einstens Wasser in Wein verwandelt habe, werde ich nun dieses Brot und diesen Wein in mein Blut und in mein Fleisch verwandeln, woran ihr, sobald ihr wieder nur Brot essen und nur Wein trinken werdet, denken sollt — dies Brot, das ich esse, dieser Wein, den ich trinke, wird Fleisch und Blut sein mit dem Fleisch und Blut, das sie bald schlachten werden?

Möglicherweise wäre die Leonardo-Truppe imstande, mich in1 der Ansicht zu unterstützen, daß der Augenblick „wahrlich, wahrlich ich sage euch!“ dem Maler nur ein Vorwand gewesen ist, das Eigentliche seiner Kunst wahrzunehmen, indem er mit Hilfe dieses in die Antwort von zwölf Körpern übersetzten Satzes, ähnlich wie Fußballspieler vor dem bedrohten Tor eine Mauer bilden, im Halboval einen Schutzwall um das errichtet hätte, was seinen Kunstverstand Vor allem bewegt hat — die Richtigkeit dieser Vermutung wäre dann erwiesen, wenn sich im Vertrauen auf die Ungenauigkeit der von den Ausstellungsbesuchern mitgebrachten Reproduktionen alle Genauigkeit der Wiedergabe auf die Personenregie konzentrieren würde, also kein Hilfsregisseur engagiert wäre, der sich um die unbelebten Bildelemente zu kümmern hätte, und das Vorhaben daran scheitern würde: wer bei solchen lebenden Bildern mitmacht, wird zwar gewiß nicht, mit einem Scherz seine Rolle zu desavouieren, eine Coca-Cola-Dose vor sich auf dem Abendmahltisch stehen haben, aber wird immer der richtige Käse, italienisch gebackenes Brot und so weiter verfügbar sein?

Aber selbst wenn der Compagnie-Chef, von allumfassendem Perfektionismus geplagt, mit einem Koffer voll mit künstlichen Naturalien reiste und mit Gläsern, die bis in die richtige Höhe mit Weinfarbe gestrichen wären, und dies alles korrekt zu placieren bemüht wäre, so wäre ja doch nicht wiederzugeben das traumverlorene und menschenferne Eigenleben auf Leonardos Tisch: nicht wiederzugeben die Stilleben-Losgelöstheit der für den/ Menschen und von den Menschen geschaffenen Dinge aus dem Zugriff und der Verfügbarkeit, gerechtfertigt durch die die Apostel vom Essen und Trinken ablen- kenden Prophezeiungen.

Nicht wiederzugeben wäre die Rückkehr des gleichsam vom Menschen Ubriggebliebenen in die Paradieseseintracht und Pa radiesesungestörtheit der vormenschlichen Zeit, verursacht von der für die Dauer der Betroffenheit der Apostel auch die Dinge erlösenden Wandlung des Brotes und Weines in Fleisch und Blut.

Nicht wiederzugeben wäre die Verlassenheit dieses Tisches, die die Verlassenheit auf dem ölberg vorwegnimmt und die Flucht der Apostel nach seiner Verhaftung, denn in all diesen Natur-morte- Brotresten und Käsestücken und halbvollen Weingläsern inmitten einer Abendgesellschaft ist auch die verstörte Einsamkeit des Kinofilm-Wirtshaustisches nach der von einer Schießerei vorzeitig beendeten Familienfeier.

Oder woran sonst als an kürzlich bzw. bald vergossenes Blut erinnert die dort am weitesten fortgeschrittene Zersetzung des Gemäldes, dank der das Tischtuch in der Nähe Christi auch ein Schweißtuch oder Leichentuch geworden ist, woran sonst als an die Gespenstermahlzeit mit dem verklärten Leibes in Emmaus Eingekehrten?

Nicht wiederzugeben wäre ihre nachsintflutliche Zusammengehörigkeit mancher I^ände, Brote und Gläser als die von Steinen, Krabben und Muschelschalen nach dem Rückgang der Flut, nicht wiederzugeben die Spannung zwischen diesen Dingen als Markierungspunkte eines neuen, die neue Zeitrechnung anzeigenden Sternbildes, nicht abzubilden in seiner Wirklichkeit die schwer- mütigeUnberührtheiteinesBrok- kens Käse, der sich in der nächsten Nähe zu einer im Greifen eingeschlafenen Hand und so nahe zu Jesus als der Stein schuldig fühlt, den niemand als erster werfen sollte, aber bald einen der Freunde steinigen wird!

Und ich würde alles daransetzen, eine Eintrittskarte für das Gastspiel zu bekommen, wenn dieses lebende Bild mithülfe, von chemischen Mitteln, beschlagenem Schutzglas, Wasserflecken oder Hautkrankheiten auch noch die jahrhundertdauernde Zerstörung dieses Bildes im Zeitraffer wiederholen wollte, mit Hilfe von Schminktechniken auch seine Beschädigungen durch Restauratoren.

(Monate später stehe ich in der Wiener Minoritenkirche vor der Replik von Leonardos „Abendmahl“, unter dem Tisch sind viele nackte Füße zu sehen, aber nicht zu identifizieren — wenn dies nicht ein Mosaik, sondern ein lebendes Bild wäre, brauchte ich nur den einen oder anderen Fuß heimlich zu streicheln oder zu zwicken, denn derjenige, der sogleich oben lächelte oder auflachte, wäre es, mit größerer Gewißheit, als daß der, welcher ihn küssen wird, der Verräter ist.)

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