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Das Nazi-Syndrom Tot und vermodert

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Wieviel NS-Gedankengut lebt heute noch in Österreich weiter? Nach einer Konferenz im norwegischen Bergen hat sich daran eine wissenschaftliche Kontroverse entzündet.

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Wieviel NS-Gedankengut lebt heute noch in Österreich weiter? Nach einer Konferenz im norwegischen Bergen hat sich daran eine wissenschaftliche Kontroverse entzündet.

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Manche Menschen gleichen Schildwachen, die mit strenger Miene und aufgepflanztem Bajonett Wache schieben, obwohl der König vertrieben, die Monarchie abgeschafft und der Palast leer ist. Man sollte sie nicht belächeln. Oft haben schreckliche Erlebnisse sie geprägt und fixiert. Aber man sollte sie als Monumente in wörtlicher Ubersetzung verstehen und nicht für Wegweiser halten. Prosaischer ausgedrückt:

Es gibt heute andere Gefahren für die offene Gesellschaft und die Demokratie als das Gespenst des Faschismus, das manche zu-spätgekommene antifaschistische Kämpfer mit Eifer verfolgen, obwohl die nationalsozialistische Weltanschauung in Österreich tot und vermodert ist — wie Josef Mengele.

Die Gefahr des In-die-falsche-Richtung-Blickens, die Gefahr -wenn man so sagen darf — der antifaschistischen Scheuklappen besteht nun in zweierlei.

Wie schon gesagt, gibt es für die Demokratie und die offene Gesellschaft heute andere Feinde als in den zwanziger und dreißiger Jahren. Der Faschismus ist ja nicht nur an seiner stärksten Wucherung — dem Nationalsozialismus — zugrundegegangen, sondern ist auch durch die Erfolge der Demokratie und nicht zu vergessen des Wohlfahrtsstaates verschüttet worden wie von einem Bergsturz.

Ubersehen wir aber nicht, daß der Zusammenprall der Industriestaaten mit den Konvulsionen, die die Modernisierung und Industriealisierung der Entwicklungsländer hervorgerufen hat, in neue Gefahren gerät. Am deutlichsten demonstrieren dies wohl die Terroristen, aber auch fundamentalistische Bewegungen.

Immer, wenn man mit der Realität nicht zurechtkommt, flüchtet man in die Religion und wie seinerzeit die Träger des Faschismus in romantische Vorstellungen einer seinerzeit vorhandenen „heilen” Welt, die nunmehr mit Gewalt wiederhergestellt werden muß.

Ich glaube, aufgrund meiner Lebenserfahrung, ein entwickeltes Serisorium für Gefahren für die Demokratie zu besitzen und gestehe offen, daß ich für die deutsche Demokratie und auch für die italienische große Ängste hatte, als der Terrorismus in beiden Ländern seine schrecklichen Untaten vollbrachte.

Wir sollten beiden Demokratien unsere Hochachtung nicht versagen, daß sie diese Gefährdung abwehren konnten, ohne polizeistaatliche Methoden zu entwik-keln. Etwas, was unsere neulinken Demokratiekritiker nicht zu würdigen bereit sind.

Juan Linz, der bedeutendste Faschismusforscher, prägte bei der Konferenz in Bergen, die sich mit Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Abbau des Faschismus befaßte, das Wort: „Der Faschismus ist tot!” Ist er auch in Österreich tot?

Nun, es gibt bei uns eine Denkschule, die den Faschismus nur für eine besonders deutliche Ausprägung des österreichischen und auch des deutschen Wesens hält und daher — wie anfangs gesagt -wie eine Schildwache am Quivive sein zu müssen glaubt.

Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft und in Zusammenarbeit mit ihr das „Ifes”-Institut, das „Fessel”-Institut im Rahmen der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft und die Arbeitsgemeinschaft für Informations- und

Medienforschung haben in den siebziger Jahren bis in die jüngste Vergangenheit, nämlich bis zum Juni 1985, Untersuchungen über das nationalsozialistische Syndrom, also die NS-Weltanschau-ung, durchgeführt.

Wir haben uns die Frage vorgelegt, erstens, wieviel von dieser Weltanschauung ist noch vorhanden, und zweitens, wie viele Österreicher bejahen sie im vollen Umfang? Einige Ergebnisse findet man im Kasten „Ja zum demokratischen Osterreich”, und es ist dazu aber folgendes zu bemerken:

Natürlich kann man die Fragen heute nicht so stellen, wie man sie 1939, vor dem Krieg, als der Nationalsozialismus weltanschaulich seinen Einflußhöhepunkt erreicht hatte, stellen hätte können. Man muß sich daher mit anderen Fragestellungen behelfen, die natürlich diskutabel sind.

Juan Linz zum Beispiel meinte, daß ein Österreicher, der findet, Österreich sei eigentlich zu klein, deswegen ja noch nicht ein Nachfolger expansionistischer großdeutscher Ideen ist.

Oder jemand, der unter dem Eindruck des Terrorismus findet, man müsse gefährliche politische Gegner einsperren oder aus dem Land treiben, bejaht deswegen nicht auch Konzentrationslager, und zwar solche, wie sie die Nazis hatten, die sie ja bekanntlich nicht nur für gefährliche, sondern auch für völlig harmlose politische Gegner in Betrieb hielten.

Und wenn man zur Zeit der Hochblüte Bruno Kreiskys die Frage nach der politischen Führerschaft stellte, ist jemand, der dies bejaht, noch lange kein Anhänger des Führerprinzips im nationalsozialistischen Sinne, sondern höchstens ein autoritätsgläubiger Mensch.

Mit anderen Worten: Die Fragen sind — wie der Fachausdruck lautet: zu weich und nicht zu hart und berechtigen umso mehr zu der Aussage, daß nicht einmal ein Promille der Österreicher der nationalsozialistischen Weltanschauung im vollen Umfange zustimmt.

Hinsichtlich antisemitischer Einstellungen haben wir - genauer gesagt die Arbeitsgemeinschaft für Informations- und Medienforschung — in einer Telefonumfrage, wo dies j a leichter geht, weil zwischen Frager und Befragten sich ein Telefonsystem befindet, harte Fragen gestellt (siehe Kasten „Der harte Kern der Antisemiten”).

Die Antworten darauf ebenso wie die auf die Frage nach Parlamentarismus und der Bereitschaft der Österreicher, ihn zu verteidigen, haben zweierlei gezeigt.

Erstens, daß im Verlaufe der Jahre der Antisemitismus schwächer, die Einsatzbereitschaft für den Parlamentarismus stärker geworden ist. Oder anders ausgedrückt: auch in den siebziger und achtziger Jahren hat die nationalsozialistische Weltanschauung Anhänger bei einzelnen Elementen verloren.

Zweitens hat die Telefonumfrage gezeigt, daß nur ein verschwindender Prozentsatz zum harten Kern gehört: bei den Antisemiten sind es drei Prozent bis zehn Prozent, je nachdem, welche Spielart des Antisemitismus man im Auge hat. Dieser Prozentsatz dürfte unter dem westeuropäischen Durchschnitt liegen und sicherlich unter dem amerikanischen.

Denn eines ist ja einigermaßen deutlich, daß jene amerikanischen Zeitungen, die in jüngster Vergangenheit die Österreicher so gern als Nazis und Antisemiten hinstellen, den Sack schlagen und den Esel meinen, nämlich ihre eigenen Landsleute.

Wenn man aber das nationalsozialistische Syndrom überbewertet, dann macht man die Restbestände glauben, sie seien weiß Gott wie bedeutungsvoll. Und das wäre die anfangs erwähnte zweite Gefahr.

Der Autor ist Generaldirektor der österreichischen Nationalbank und Obmann der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft.

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