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Dem Denken eine Chance!

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„Christliche Schizophrenie" hat es neulich jemand genannt, das — zugegeben etwas ambivalente -christliche Denken in Sachen Rüstung, von dem ich behaupte, daß es verboten ist, oder daß es zumindest den, der es zur Sprache bringt, entweder zu einem naiven Idealisten oder auch verstiegenen Philosophen degradiert, was beides den Effekt erzielt. Denken zu entmündigen.

Es gibt in der Kirche gewisse Themenkreise, die man praktisch nicht bedenken darf, denn wehe, man hätte eine Frage, die möglicherweise verunsichern oder die „Sonntagschristen" aus ihrem Dämmerschlaf reißen könnte, schon hagelt es Antwortschemata, die alle Fragen ersticken.

Neue theologische Erwägungen werden (teils unter dem Motto: „Alles schon einmal dagewesen") als irrelevante Hypothesen abgetan. Damit sei niemand kritisiert, der in Treue an der kirchlichen Lehrmeinung festhält.

Dieser Typ Mensch ist keineswegs nur in der Kirche beheimatet; Menschen dieser Art zählen sich auch zu den profiliertesten Politikern, Ideologen und Strategen - nur eben in der Kirche sollte man sie nicht antreffen müssen.

Dort werden sie zu Mördern des Denkens. Sie haben letzte Antworten auf alle Fragen, fixe Meir-nungen zu allen Themen und fühlen sich immer durch die kirchlichen Dogmen oder auch den Bibelwortlaut gedeckt - gleich zwei Punkte, die zu denken geben…

Das ist toter Glaube, der sich dem Kreuz jeder Unsicherheit entzogen hat.

Fragender Glaube meint nicht bequemen Skeptizismus, der sich mit Verneinungen begnügt, sondern eine Art „Aszese des Verstandes", die die Wahrheit immer wieder nach noch unentdeckten Schwachstellen abklopft.

Diesem „methodischen Zweifel" sollte man sich, glaube ich, nie entziehen. Es stellt sich mir die Frage, ob je ein „letztes Wort" zu Themen wie „Zölibat", „Weihe von Frauen" oder auch „Weltfriede und Abrüstung" gesprochen werden darf.

Daß der Vatikan einen durch Rüstung hergestellten Frieden für unmoralisch hält, dürfte für christliche Pazifisten kein Alibi werden für die Forderung, die Bergpredigt im politischen Bereich wörtlich zu nehmen.

Außerdem muß man zugeben: ein in diesem Sinn unmoralischer Friede hat durchaus auch etwas für sich — oder nicht?

Kann man nicht manchmal den Eindruck bekommen, die Kirche sei dabei, den Großteil ihres Bewußtseins in der Grabstätte eines Gedankensystems beizusetzen? Warum wagt sie es nicht, Dinge neu in Frage zu stellen?

Vielleicht ist das der Grund für die eigenartig distanzierte Haltung vieler innerkirchlicher religiöser Bewegungen zur wissenschaftlichen Theologie und überhaupt zu jeder Form rationalen Denkens. Hier, so scheint mir, entsteht die Kluft zwischen intellektuellem Forschen und spirituellem Streben — eine paradoxe Kluft. Denn nur das gelebte Wort hat Anspruch darauf, gesagt zu werden.

In diesem Sinn muß jeder Christ Theologe sein, gelebte Lehre, nicht bloß Lehrer, dessen Selbstwertgefühl es nicht erträgt, auf etwas keine Antwort zu wissen.

Und das müßten wir uns als lebendige und (hoffentlich) reifende Kirche wahrscheinlich einmal eingestehen: Christentum ist keine Ideologie, und Theologie hat das Recht, für manches keine Lösung zu wissen oder auch zwei Alternativen zu bieten, die eben zu bedenken sind, was mit Schizophrenie noch lange nichts zu tun hat!

Vielleicht wäre nach dem Kampf gegen Verunsicherung jetzt auch einmal eine Pastoral des Suchens und Fragens an der Reihe, damit Christen nicht Repräsentanten einer kaum mehr denkenden Gesellschaft werden.

Eigenartig und bemerkenswert: Christus ist mit einer Frage auf den Lippen gestorben!

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