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Der 10-Prozent-Erfolg

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Kein legistisches Werk der Fünften Republik stand so im Kreuzfeuer heftigster Diskussionen wie es das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft war, welches im Dezember 1974 im wesentlichen mit den Stimmen der Linksparteien beschlossen wurde. Nachdem der Text in der amtlichen Zeitung der Republik am 18. Jänner 1975 publiziert worden war, erhofften zahlreiche Gegner, daß, wie es schon oft geschehen ist, die notwendigen Ausführungsbestimmungen spät, später, am spätesten veröffentlicht werden würden. Aber Frau Gesundheitsminister Simone Veil, mit deren Namen dieses Gesetz eng verknüpft ist — man spricht sogar von einer Lex-Veil — zögerte nicht, vom 15. Mai bis zum 30. August des vergangenen Jahres alle Maßnahmen zu treffen, um dem Willen der Mehrheit des Parlaments und der öffentlichen Meinung zu entsprechen.

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Kein legistisches Werk der Fünften Republik stand so im Kreuzfeuer heftigster Diskussionen wie es das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft war, welches im Dezember 1974 im wesentlichen mit den Stimmen der Linksparteien beschlossen wurde. Nachdem der Text in der amtlichen Zeitung der Republik am 18. Jänner 1975 publiziert worden war, erhofften zahlreiche Gegner, daß, wie es schon oft geschehen ist, die notwendigen Ausführungsbestimmungen spät, später, am spätesten veröffentlicht werden würden. Aber Frau Gesundheitsminister Simone Veil, mit deren Namen dieses Gesetz eng verknüpft ist — man spricht sogar von einer Lex-Veil — zögerte nicht, vom 15. Mai bis zum 30. August des vergangenen Jahres alle Maßnahmen zu treffen, um dem Willen der Mehrheit des Parlaments und der öffentlichen Meinung zu entsprechen.

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Bis zu diesem Parlamentsbeschluß wurde die Schwangerschaftsunterbrechung nach einem Gesetz aus dem Jahre 1920 und einem Text, der aus dem Jahre 1810 stammte, reglementiert. Um nach dem Ersten Weltkrieg der drohenden Entvölkerung entgegenzuwirken, wurde damals ein sehr repressives Vorgehen der Polizei und der Sanitätsbehörden gefordert. Das führte zu einer massiven Erhöhung der jeder Hygiene spottenden illegalen Eingriffe, wobei zahlreiche

Frauen Gesundheit und Leben einbüßten. Die Regierung gab eine Zahl von 300.000 geheimen Schwangerschaftsunterbrechungen pro Jahr bekannt. Allerdings lagen die Dunkelziffern wesentlich höher und man wird nicht fehlgehen, wenn man von 800.000 Fällen spricht. 1972 mußte man die Gesamtzahl der Todesfälle nach einem Abortus bei Frauen zwischen 18 und 44 Jahren mit 10.700 angeben.

Das Problem wurde durch ein Manifest von 343 Frauen im April 1971 aktualisiert, als einige Repräsentantinnen des künstlerischen und literarischen Lebens in dem linksorientierten Wochenmagazin „Le Nouvel Observateur“ gestanden, sie hätten an sich eine Abtreibung vornehmen lassen. Im gleichen Jahr fand der sogenannte Prozeß von Bobigny statt, der die heftigsten Polemiken auslöste. Ein 17jähriges Mädchen, nach einer Vergewaltigung geschwängert, ließ mit Unterstützung ihrer Mutter über sich einen Abortus ergehen. Sie wurde freigesprochen und die Mutter in einem späteren Prozeß zu gjper,. Reichten Strafe verurteftfrlWährend 'Präsident Pompidou jedoch dieses heiße Eisen nicht anfassen wollte, unternahm es seih Nachfolger Giscard d'Estaing, einen vollkommen neuen Text dem Parlament vorzulegen, da alle Initiativen zu einer Liberalisierung gescheitert waren. Die Kirchen hatten sich mehrfach in die Auseinandersetzungen eingeschaltet. Tatsächlich zeigten die Diskussion und die mit der Reform des Abtreibungsstrafrechts

verbundenen rechtlichen, ethischen und biologischen Fragen in Frankreich eine größere Vielfalt von Standpunkten als in den übrigen westeuropäischen Staaten.

Der nunmehr rechtskräftig gewordene Text geht von dem Gesichtspunkt aus, daß die Schwangerschaftsunterbrechung zu entkriminalisieren und jede Gefahr für die physische und psychische Gesundheit der Frau zu beseitigen seien. Von nun an kann der Artikel 317 des Strafgesetzes nicht Anwendung finden, wenn die Unterbrechung vor der 10. Woche der Schwangerschaft, und zwar durch einen Arzt in einem öffentlichen Spital oder einer anerkannten Privatklinik vorgenommen wird. Lediglich im Falle einer ernstlichen Gefahr für die Mutter oder wenn das zu gebärende Kind voraussichtlich schwere Erbschäden aufweisen wird, kann nach einem späteren Zeitpunkt der Eingriff vorgenommen werden. Wie bekannt ist, muß die schwangere Frau von einem Arzt über sämtliche Folgen des Abortus informiert werden. Dieser Zwang wird nach allen bisherigen Erfahrungen von den Mädchen und Frauen nicht gerade mit heller Begeisterung begrüßt. Trotzdem haben sich auf Grund einer solchen Belehrung zirka 10 Prozent entschlossen, die Leibesfrucht auszutragen.

Gegenwärtig stehen in ganz Frankreich 254 öffentliche Spitäler für eine Schwangerschaftsunterbrechung zur Verfügung. Darüber hinaus erklärten sich 146 Privatkliniken bereit, einen Abortus durchzuführen. Seit dem 1. Jänner 1975 wurden ungefähr 20.000 Schwangerschaftsunterbrechungen auf dem gesamten Territorium der Republik vorgenommen, davon 2700 in den öffentlichen Spitälern der Pariser Region. Nach

terten Familien vor, den Eingriff in England, Holland oder in der Schweiz durchführen zu lassen. Diesbezüglich gibt es jedoch keine Statistiken und das Gesundheitsministerium ist nicht in der Lage, eine korrekte Zahl bekanntzugeben. Die zuständigen Sanitätsbehörden erklären einstimmig, daß das neue Gesetz in der Praxis auf geringere Schwierigkeiten stoße als ursprünglich angenommen wurde. Besonders die darin vorge-

sehene Gewissensklausel wird von allen Seiten respektiert. Kein Arzt, keine Krankenschwester oder kein Institut können gezwungen werden, eine Schwangerschaftsunterbrechung durchzuführen.

Im Februar 1976 zog Frau Gesundheitsminister Veil die erste Bilanz ihres Werkes. Die Ärzte zeigen sich durchaus ihrem Gewissen verpflichtet und nehmen den Eingriff vor, beziehungsweise lehnen ihn auf Grund ihrer weltanschaulichen Einstellung ab.

Die von einem Teil der Ärzteschaft energisch bekämpften Paragraphen

der Lex-Veil fanden ein gewisses Verständnis bei Ärzten, die vorher als Gegner zeichneten. Gegenwärtig ist eine Broschüre in Vorbereitung, welche über sämtliche Apotheken an die weibliche Bevölkerung verteilt werden soll. In einer solchen Publikation sollen sämtliche Aspekte des Eingriffes in einer leicht verständlichen Sprache präsentiert werden. Als positive Seite des funktionierenden Gesetzes ist zu erkennen: die schädlichen Folgen nach heimlichen und unsachgemäß durchgeführten Eingriffen sind im Verschwinden begriffen.

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