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Der Götze

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Wenn man von den Kanalinseln spricht, dann denken die meisten an Jersey oder Guernsey, die bekannten Urlaubs- und Steuerparadiese unter britischer Verwaltung, nur wenige Kilometer von der französischen Küste entfernt. Die nur einige Quadratkilometer große Insel Sark ist fast unbekannt, zu Unrecht: die Insel, die im Eigentum einer exzentrischen ältlichen Feudalherrin steht, verfügt nämlich weder über Elektrizität noch Gas; auch Straßen gibt es keine, denn der Besitz von Autos ist verboten. Folglich gibt es auch keine Tankstellen, keine Benzinstreiks und keine Angst vor einer drohenden Energiekrise.

Die restliche Welt hat den anderen Weg gewählt und sich bedenkenlos dem Fetisch Fortschritt verschrieben. Die permanente und reibungslose Versorgung mit Energie — in welcher Form immer — ist zur Selbstverständlichkeit geworden, sie ist ein „natürlicher“ Vorgang ähnlich der Nahrungsaufnahme.

Kein Wunder also, wenn eine ganze Nation kopfsteht, wenn der besondere Saft plötzlich nicht mehr fließt: Millionen „Beinamputierte“ ...

Erinnern wir uns an anderes:

Vor einigen Jahren brach durch ein technisches Gebrechen zur Nachtzeit die gesamte Stromversorgung für New York zusammen. Die Folgen dieses — nur wenige Stunden andauernden — Energieausfalles zeigten sich zwar erst mit einiger Verzögerung, waren aber nicht minder spektakulär: just neun Monate später waren nämlich sämtliche Geburtenkliniken von New York und Umgebung überbelegt. (Es müßte doch reizvoll sein, eine empirische Untersuchung über die Interdepen-denz von Geburtenrückgang und der Anzahl der Fernsehansohlüsse in den Ländern der sogenannten zivilisierten Welt durchzuführen).

Ein Bäckerstreik, ein Ärztestreik oder etwa gar ein Lehrerstreik sind unangenehm, lästig oder unbequem; wenn aber das Benzin nicht mehr tröpfelt, dann ist die Katastrophe perfekt.

Ohne in Kassandrarufe verfallen zu wollen, muß festgehalten werden, daß die unheilige Allianz zwischen blindem Fortschrittsglauben, hybrider vermeintlicher Beherrschung der Technik sowie allzu menschlicher Bequemlichkeit nicht nur Raubbau an der Natur und unserer Umwelt betrieben, sondern auch vernunftbegabte Wesen zu hilflosen Tschap-perln gemacht haben. Unser sklavische Abhängigkeit von der permanenten Energietransfusion ähnelt der eines Rauschgiftsüchtigen; kein Wunder, daß Energieerzeuger und -Verteiler leichtes Spiel haben, daß um die Energiequellen ein erbittertes Ringen stattfindet und die Preisentwicklung nicht mehr abzusehen ist; nur am Rande sei vermerkt, daß in den Vereinigten Staaten bereits wieder alte aufgelassene Kohlenbergwerke reaktiviert werden.

Aber keine Angst, der Tanz um das goldene Autokalb ist noch lange nicht zu Ende, denn zu viele sind in dieser gigantischen Industrie beteiligt: Autos rollen vom Fließband,

Autozubehör wird zeitbewußten Fahrern eingeredet, Benzin, öl, Versicherungen ... alle verdienen prächtig. Nicht zuletzt auch der Finanzminister, dessen Budget ohne die sprudelnden Steuereinkünfte gar armselig wäre.

Am Elektromobil wird zwar hektisch gebastelt, aber die Erfolge wollen sich nicht einstellen.

Oder darf nicht sein, was nicht sein soll? Weil allzu viele Interessen am herkömmlichen Benzin-System hängen?

Noch vor nicht allzulanger Zeit haben sich die Menschen in zähen Kämpfen die politischen Freiheitsrechte erkämpft. Doch was nützen solche Rechte, wenn die Sachzwänge immer größer werden? Das Wort von der Diktatur der Technik, der Energie oder des Konsumzwanges sind leider keine hohlen Phrasen mehr, und die letzte Stufe dieser freudlosen Entwicklung sind im Grunde die Technokratenregime, nebst autoritären Eliten. Sie könnten noch den Anforderungen solcher Konsumgesellschaft halbwegs gerecht werden.

Somit ist die Frage, inwieweit wir einer Entwicklung in diese Richtung eine Wendung geben können, nicht zuletzt auch eine Existenzfrage der Demokratie, und das Wort von der „Qualität des Lebens“ erhält eine tiefere Dimension.

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