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Der Musiker in Bronze und Marmor

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Auf den Tag genau an seinem siebenten Geburtstag — am 24. Februar 1900 — wurde das „Wunderkind der Geige“ (bestaunt von Pablo de Sarasate), Gustinas Ambrosi, Schüler der ersten Volksschulklasse in Prag, in die Verlassenheit des Taubseins gestoßen — von einer schrecklichen Epidemie (Meningitis, Gehirnhautentzündung) dem Leben zum Experiment überlassen (zwölf Kinder starben, eines blieb blind, eines blöd, eines lahm, eines taub!). Die am Bettrand zertrümmerte Geige deutet den Jammer nur an, der über die Familie des genialen Rittmeisters Friedrich Ambrosi (Komponist und Maler: Freund von Johannes Brahms, Josef Joachim; Schüler Amerlings, Freund Segantinis, Böcklins, Pettenkofens, Canons, En-gelharts...) und dessen Frau Nathane hereingebrochen war — Die Anklage des Jünglings bleibt nicht aus:

„Mein Gott, schlugst du denn nicht

mir beide Ohren zu, daß “ich ertaubt ein ganzes Leben

friste bei Stein und Lehm...“

„Du bist der Stein! — Du wirst dir

abgeschlagen; dü lachst und weinst — und siehst

erstaunt dir zu, wie sich dein Schicksal bildet und

wie du

auch wider Willen selbst dich mußt ertragen...“

August Strindberg versucht zu trösten: „Daß Sie taub sind und Ihr Leben unerträglich finden, ist nur der Beweis, daß Sie sich bevorstehen — und alles, was Zukunft hat, steht sich bevor. Sie Glücklicher: Der bittere Kelch ist die höchste Gnade...“ — Der Tod hat ihn dem Leben zum Experiment gelassen — und das Experiment scheint zu gelingen:

„O Glück, daß er auch Bildner

konnte sein, in Marmor seine Qualen

auszulassen...“

„... so bist du nur, wie dich das AU beschließt...!“

Peter Wust teilt die Menschen in die Ur-Vertrauenden und die Ur-Mißtrauenden, Karl Jaspers spricht von der Chiffresprache alles Seienden, Ernst Jünger von der Runen-

schrift: Man ahne die Maße, auf die diese Welt gegründet sei. Gustinus Ambrosi ist einer dieser Ahnenden, Vertrauenden und Liebenden; einer, der trotz Enttäuschung und Leid in ein gesichertes und geprüftes Verhältnis findet zum Ganzen dieser Welt und willens ist, in Geduld und Zuversicht das größte Abenteuer allen Lebens zu bestehen: Form zu werden!

Einer, der recht bald die Chiffren zu enträtseln und zu lesen weiß: „Taubheit ist das Gehör für die Sprache der Natur“, schreibt bereits der Sechzehnjährige an August Strindberg — und bekennt in seinem „Buch der Einschau“:

„Zwar hör ich nichts — und dies ist

eine Gnade, zu der ich rings den Lärm

einlade...“

Beethovens Tragödie besteht auch darin, daß sich der Titan seine Taubheit nicht gestehen will:

„Du hast die Taubheit freilich

mißverstanden, dir war's, als fiele eine Türe zu — und hinter dieser Türe weintest du, als kämst du grauend dir abhanden“ (Aus Sonett Nr. XI)

56 Jahre (1918 bis 1974) hielt Gustinus Ambrosi in den Katakomben der Verlassenheit Zwiesprache mit dem tauben Bruder Ludwig van. Beethoven:

„Wie oft sah ich beim Musizieren zu —

und hörte nichts —; und sah durch

Augen; lauschte durch Augen, wie die Allmacht mich

umrauschte — beglückt erahnend: hier herum bist

du!“

(Aus Sonett XXXIV)

„Ich bin 75 Jahre taub, doch innen voller Klang und Melodie... es gibt eine Musik der Taubheit — schöner als alle Musik der hörenden Organe“, schreibt Ambrosi.

Und Hermann Bahr bestätigt: „Sie sind zum Musiker in Bronze und Marmor geworden, auch in der Klangwirkung Ihrer Dichtungen: kürzen keine Melodie, lassen sie klanglich weiterwirken, bis die musikalische Rhythmik sich harmonisch erschöpft — ähnlich wie bei Beethoven.“

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