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Der Schlag der Tupamaros

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Die Entführung des englischen Botschafters in Uruguay, Geoffrey Jackson, durch die linksintellektuelle Stadtguerilla der „Tupa- maros“ bildet einen neuen Höhepunkt in dem revolutionären Krieg, der sich seit etwa drei Jahren mit wachsender Intensität in den drei lateinamerikanischen Ländern am Atlantischen Ozean, Brasilien, Uruguay und Argentinien entwickelt.

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Die Entführung des englischen Botschafters in Uruguay, Geoffrey Jackson, durch die linksintellektuelle Stadtguerilla der „Tupa- maros“ bildet einen neuen Höhepunkt in dem revolutionären Krieg, der sich seit etwa drei Jahren mit wachsender Intensität in den drei lateinamerikanischen Ländern am Atlantischen Ozean, Brasilien, Uruguay und Argentinien entwickelt.

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In diesem Drama spielen die Terroristen, die Regierung und die Opfer die Hauptrollen; aber die Zuschauer, das Volk, werden am Schluß die entscheidende Instanz sein. Geoffrey Jackson ist das siebente Opfer erfolgreicher Enitführer in Uruguay. Erst kidnappten sie „Prominente“ der verhaßten „Oligarchie“. Sie nannten den Präsidenten der Elektrizitätswerke Dr. Pereira Reverbel einen „Großgrundbesitzer, Verteidiger der Schmuggler, straflosen Mörder, Verfolger der Elektrizitätsarbeiter und führenden Repräsentanten der herrschenden Schicht“, ließen ihn aber nach drei Tagen gesund, wenn auch gedopt, frei. 1969 hielten sie den Bank- und Verlagsdirektor Dr. Gaetano Pellegrini, des sen Vater Minister bei Mussolini gewesen war, 73 Tage in „Volkshaft“, bis Freunde von ihm für „wohltätige Zwecke“ 15 Millionen Pesos „spendeten“. Mitte 1970 zogen sie den Strafrichter Dr. Daniel Pereyra Manelli vor ihr „Volksgericht“, klagten ihn wegen einiger „Fehlurteile“ an, aber „sprachen ihn frei“. Sie entführten und ermordeten dann den nordamerikanischen Sicherheitsexperten Dan Mitrlone, von dem sie zu Unrecht behaupteten, er habe im Monte- videaner Polizeipräsidium Unterricht in Folterungen erteilt.

Man möchte die Motive für derartige „Aktionen“ und das Schicksal ihrer Opfer festhalten, um aus ihnen Schlüsse für den „Fall Jackson" zu ziehen. Aber Logik ist .eher in Kri-

minalromanen als in ihrer Realität zu finden. Seit fast einem halben Jahr halten sie den brasilianischen Konsul Aloysio Dias Gemide und den nordamerikanischen Agrar- experten Dr. Claude Fly in „Volkshaft“, ohne daß auch nur die castroistische Wochenschrift „Mar- cha“ zu erklären vermöchte, warum sie machtlosen Ausländem, die nirgends eine Rolle gespielt haben, ein so grausames Schicksal bereiten. Auch gegen Jackson fehlen ihnen alle Argumente. Er ist ein typischer Repräsentant der würdigen und glänzend geschulten englischen Diplomatie. Auch aus ihrer revolutionären Optik ist die Wahl schwer zu verstehen. England ist längst nicht mehr ein Haßobjekt für „Antiimperialisten“.

Obwohl Drohungen gegen ihn nicht bekannt wurden, hatte er, wie alle in Uruguay akkreditierten Diplomaten, mit der Möglichkeit der Entführung gerechnet. Er hatte darauf bestanden, daß seine zwei Bewacher keine Waffen tragen, weil die Terroristen sie sonst bei ihrer Intervention abgeknallt hätten. Er hatte seiner Frau empfohlen, im Falle seines Raubes sofort zu ihrem Sohn nach London zu fahren, was sie auch getan hat, und ihr sowie dem uruguayischen Außenminister Dr. Peirano Facio erklärt, das Schicksal eines Landes sei wichtiger als das Leben eines Botschafters. Er lehnte jeden Druck auf Uruguay ab, weil er in ihr eine Intervention in die inneren Angelegenheiten des Landes sah und wohl auch keinen Einfluß auf die Antiguerillapolitik nehmen wollte.

Der uruguayische Präsident Jorge Pacheco Areco hat — erstaunlicherweise — seinen kurzen Sommerurlaub, den er in einer historischen Festung mit schönem Park am Atlantischen Ozean verbringt, nicht unterbrochen. Seine Minister jagen im Flugzeug oder im Auto zwischen Montevideo und seinem Sommersitz hin und her. Sie bringen Trostworte für die Gattin des Botschafters, Botschaften an die englische Königin oder Anträge an das Parlament: die „individuellen Rechte“ der Verfassung sind wieder auf 40 Tage aufgehoben worden: Die Polizei kann zu jeder Zeit und ohne richterliche Intervention Haussuchungen vornehmen, jeden ohne Angabe von Gründen in Haft nehmen und „zur Verfügung der Regierung" — ohne richterlichen Beschluß — „internieren“. „Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um den Botschafter des befreundeten Landes zu befreien“, sagt der Präsident. Was er nicht wieder sagt, aber alle wissen, wird er aber eines nicht tun: „mit den Verbrechern verhandeln“. Genau das ist aber, was die „Tupamaros“ erzwingen wollen.

In Punkt 5 ihres Communiques, in dem sie sich zu der Entführung des Botschafters bekennen, stellen sie keine Bedingungen für seine Befreiung, sondern sagen nur: „Es ist jetzt Sache der Regierung, den abgelehnten Weg der Verhandlung aufzunehmen.“ Sie wollen bei ihren „Enteignungen“, „Vernehmungen“, „Hinrichtungen“, mit ihrem „Volksgericht“ und ihrem „Volksgefängnis“ als „Gegenmacht im Staate“ anerkannt werden, also die Rolle spielen, die dem Vietkong in Südvietnam zukommt.

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