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Der Sturz des Ikarus

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Ausklingende Jahrtausende werfen Schatten. Der Schatten am Ende des zweiten Jahrtausends, im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, war grün.

Mit „Grün" bezeichnen wir heute eine weltweite Bewegung des Widerstands gegen die damals virulente technologische, ästhetische und moralische Umweltverschmutzung.

Hinterm Berg lag eine abgewirtschaftete Parteienkultur, deren Wirte um die versiegten Brunnen ihrer ursprünglichen Ideen standen.

Die ersten grünen Männchen wurden aus dem Blickwinkel der Rednerpulte glatt übersehen. Den alemannischen „Nazi" aus dem fernen Vorarlberg fanden die Großbauern „niedlich". Die Medien zeigten ihn beim Kühemelken.

Ohne die Ereignisse des Jahres 1984 überzubewerten, konnte man sehen, daß die grünen Männchen wuchsen. Es gab unter ihnen noch zahlreiche Romantiker, für die der Strom aus der Steckdose kam, die ihre Kühe molken und den Butterberg nicht sahen, die große Autos fuhren und den Wald mit einem „Pickerl" schützten.

Aber es gab Grüne, Grünrote, Grünschwarze und Grünblaue, die völlig realistisch an Alternativen für die Zukunft arbeiteten.

„ ... er ist sicherlich sehr anständig" (der Kaspanaze), meinte der Anton vom Benyahof: „Als Demokrat kann mich das nicht aufregen" - die vier grünen Abgeordneten im Vorarlberger Landtag. Da gäbe es ja immer noch eine „demokratische" Mehrheit. Das sei ja das Schöne am demokratischen System...

„Derzeit sind diese Gruppen gegen alles und suchen nur das Gute." Sie seien „phantasievoll", aber hätten keine Konzepte. Lägen die einmal am Tisch ...

1885 schrieb Emile Zola von einem Tag, der kommen werde, „an dem eine Rübe, in origineller Weise gemalt, mit einer Revolution schwanger gehen wird". Die Rüben sind inzwischen aus den Bilderrahmen gesprungen und Wirklichkeit geworden. Nicht ihr Abbild, sondern ihre pflanzenhafte Leiblichkeit schaffte Unruhe.

Im 16. Jahrhundert malte der Bauernmaler Pieter Breughel der Ältere ein Bild vom Urahn des Anton vom Benyahof. Er nannte es den „Sturz des Ikarus": Groß im Vordergrund pflügt der Ur-uranton sein Feld — von links nach rechts. Die Landschaft ist märchenhaft schön.

Tief im Hintergrund liegt eine Traumstadt an der Küste eines ruhigen Ozeans, auf dem ein großer Segler, schwimmt. Am rechten Ufer schaut ein Hirte inmitten seiner weidenden Schafe traumverloren in die Luft.

Und hinter ihm — kaum auszunehmen — ersäuft der Ikarus. Winzig kleine Beinchen ragen aus dem großen Wasser und künden von einer gescheiterten Utopie. Unsere Ahnen haben diesen Ausbruch in die Zukunft gar nicht bemerkt. Heute reisen wir in Raumschiffen.

Die künstlerischen Utopien eines Joseph Beuys mit seiner „sozialen Plastik", die Suche nach dem „Dritten Weg" einer „nachindustriellen Gesellschaft" und die Realität eines Kaspanaze hatten auch ihre Folgen.

Die etablierten Parteikulturen mußten veröden, weil sie keine Produkte mehr hervorbrachten. Während die Wasch- und Spülmittelhersteller ihre Körner und Säfte grün färbten, um ein „biologisches" Gesicht zu bekommen, zeigten die Großgrundbesitzer grüne Plakate mit ausgestopften König-Rallen.

Die Phantasie, die sie großzügig den grünen Männchen bescheinigten, paßte nicht in ihr technokratisch-bürokratisches System. Phantasie stand außerhalb ihrer Denk- und Verhaltensmuster.

Wie die damaligen Medien keine Bilder zeigten, ohne dem Leser oder Zuseher genau zu erklären, was er sehen durfte, verlief auch der politische Alltag mit protokollarischen Kulthandlungen, die sich in „Rückwärtsfersen" erschöpften.

Wenn wir heute davon ausgehen, daß die äußere Form das innere Format bestimmt, dann war der Verschimmelungsprozeß nicht aufzuhalten. Weil die Phantasie nicht von außen kam, mußten die Champignons im Keller wachsen.

Unsere heutige (Parteien-)Kul-tur ist naturgemäß weit davon entfernt, alle „unsere sozialen und natürlichen Beziehungen mit unserer Umwelt zu verwirklichen".

Aber aus dem Kompost der alten Kulturen entstand eine neue Generation, die nicht, wie viele damals meinten, auf die „Mistelkraft" mythischer Raumkreuzer vertraut, sondern auf die geistigen Fähigkeiten des Menschen.

Der Autor leitet die Kulturredaktion der „Kleinen Zeitung", Graz.

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