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Die Euphorie

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Mitte September hat die Paritätische Kommission Lohnanträge für mehr als ein Viertel der österreichischen Arbeitnehmer zur Verhandlung zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebervertretem frei- gegeben. Für die Industrieangestellten wird eine Erhöhung der Kollek- tiwertragsgehälter bis zu 28 Prozent, für die Chemiearbeiter dagegen eine Erhöhung der Kollektivvertragslöhne von immerhin noch 20 Prozent gefordert. Dazwischen liegen die Forderungen anderer Arbeitnehmergruppen.

Stafoilitätspolitisoh und damit regierungspolitisch sind diese Forderungssätze problematisch, wenn man berücksichtigt, daß das Institut für Höhere Studien errechnet hat. daß jedes Lohnprozent den Ver- brauoherpredsdndex um 0,65 Prozent betastet. So gesehen, sind nicht nur die Lohnforderungssätze, wie dias Bundeskammergeneralsekretär Doktor Mussil festgestellt hat, „schwindelerregend”, sondern auch die Inflationsaussichten im nächsten Jahr. Daran kann einer Regierungspartei, die sich 1975 zur Wahl stellen muß, wenig gelegen sein. Dennoch hat man nicht den Eindruck, daß sie zur Zeit versucht, einen mäßigenden Einfluß auf die Forderungen der Gewerkschaften auszuüben. Im Gegenteil: “im Regferub čafg.ąh „Arbeiter-Zeitung” werden die Gė- wericschaftsforderungen ausdrücklich maßvoll und stabilitätsbewußt genannt.

Zwischen 1970 und 1973, also in den letzten vier Jahren, stiegen die Nettotariflöhne der Arbeiter durchschnittlich um rund 11 Prozent, zwischen Jänner und Juli 1973 stiegen die Arbeiternettolöhne um 10,1 Prozent, im ersten Halbjahr 1974 dagegen um 15,1 Prozent, also um 50 Prozent stärker. Lohnerhöhungen im geforderten Ausmaß würden die Steigerungsrate auf durchschnittlich 20 Prozent treiben. Das ist, wie sich unschwer ausrechnen läßt, wohl mehr, als eine vernünftige Stabilitätspolitik vertragen kann, und sicherlich auch bedeutend mehr, als die sogenannte „Benya-Formel”, nämlich jährlich eine dreiprozentige Reallohnsteigerunig. Auch im letzten Jahr wurde die Benya-Formel bereits um das Doppelte übertroffen, doch leider nicht um den Preis einer stabilitätspolitisch notwendigen lohnpolitischen Atempause in diesem Jahr.

Es scheint, als grassierte derzeit in der Regierungspartei und im Ge- werkschaftsflügel eine grenzenlose Wirtschafts-Euphorie. Man lugt über die Grenzen und entdeckt, daß in Österreich die Uhren der Wirtschaft anders laufeh: ohne starke Wachs- tumsveriuste, ohne Arbeitslose und ohne erhebliche Produktionseinbußen. Was man dabei freilich nicht wahrzuhaben scheint, sind Probleme, die schon lange auf eine etwas eingehendere Behandlung warten, wie beispielsweise die augenfälligen Wachstumsverlußte der Fremden- verkehrswirtidhaft, das ‘ständig’ gende Zahlungsbilanzdefizit, alles Probleme, mit denen wir möglicherweise noch zu kämpfen haben werden, wenn sich in anderen Staaten längst wieder ein Konjunkturauf- schwung abzeichnet. Bei den Preisen ist die Situation bereits eindeutig: Sicherlich, unsere Imflatioosrate liegt unter der von Italien, Großbritannien, Griechenland und Spanien, über sie ist bereits bedeutend höher als die Inflationsrate in der Schweiz, Schweden, den Niederlanden und in der Bundesrepublik Deutschland.

Darauf, daß Österreich erst vor der Lösung schwerwiegender wirtschaftlicher Probleme steht, deutet die starke Steigerungsrate der Lohnquote hin. Sie soll Ende dieses Jahres 67 Prozent betragen und wird damit erheblich über der Lahnquote des Jahres 1970 (64,1 Prozent) liegen. Nun sind aber steigende Lohnquoten auch Gradmesser dafür, daß sich ein wirtschaftlicher Abschwung abzeichnet. Schon aus diesem Grund ist die sogenannte Lohnquotenpolemik eine höchst problematische Sache. Daß sie derzeit seitens der Gewerkschaft mit verhältnismäßig großer Vehemenz betrieben wird, zeugt nicht gerade von großem Ver- antwortungsfoewußtsein für stabili- tätspolitisohe Erfordernisse.

Wie dem auch sei: Die Frage, ob in Österreich in nächster Zeit wieder einigermaßen stabile wirtschaftliche Verhältnisse hergestellt wenden können, wird zu einem Großteil mit dem Ergebnis der Lohnrunde im Herbst 1974 beantwortet werden. Es ist mit ziemlicher Sicherheit feststellbar, daß Lohnerhöhungen im Ausmaß von 20 und mehr Prozent die Frage negativ beantworten würden. Wobei zu vermerken ist, daß es nicht allein die Lohnforderungen sind, die die Inflationsraten höhertreiben würden, sondern auch eine Reihe- suzialpdittischer Leistungen, die, Hängst’ ‘ttėschlossen,’ seit dem 1. September wirken oder nach dem 1. Jänner 1975 wirken werden. Dazu zählt die Arbeitszeitverkürzung auf 40 Stunden, die Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall, beides Maßnahmen, die auf eine Erhöhung der Lohnikosten (zusammen in Höhe von rund 6 Prozent) hinauslaufen.

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