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Die Gewohnheit der Erinnerung

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Gert F. Jonke, erst kiirzlich mit dem neugeschaffenen Inge-borg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, ist mit seinem jiingsten Buch „Schule der Geläufigkeit” - eine subtile Anspielung auf das bekannte Klavierwerk gleichen Namens von Carl Czerny - endgültig aus dem Schatten seines vielgerühmten Lands-mannes Peter Handke heraustreten. In beiden Erzählungen hat Jonke zu einem eigenen, unverwechselbaren Stil gefun-den, der ihn als einen der wichtigen österreichischen Autoren der letzten Jahre ausweist.

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Gert F. Jonke, erst kiirzlich mit dem neugeschaffenen Inge-borg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, ist mit seinem jiingsten Buch „Schule der Geläufigkeit” - eine subtile Anspielung auf das bekannte Klavierwerk gleichen Namens von Carl Czerny - endgültig aus dem Schatten seines vielgerühmten Lands-mannes Peter Handke heraustreten. In beiden Erzählungen hat Jonke zu einem eigenen, unverwechselbaren Stil gefun-den, der ihn als einen der wichtigen österreichischen Autoren der letzten Jahre ausweist.

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„Du willst Erinnerung in Gegenwart verwandelnd die Zeit der kommenden Stunden unversehens einfrieren, um auf ihr die Abbildungen unserer ein-jährigen Vergangenheit zu einer einzi-gen Monumentalphotographie zu entwickeln, welche herzustellen Du einen Teil unserer kommenden Gegenwart benützen willst.”

Dieser Satz könnte als Motto über den beiden Erzählungen stehen. Hauptfigur ist ein scheitemder Kom-ponist, der verzweifelt versucht, seine Vergangenheit zu bewältigen, sich aus dem zermürbenden Trott zu befreien und seine Individualität zu bewahren. Zentrales Thema ist die „Erinnerung”, die Frage nach der Wahrheit von Emp-findungen und Gefühlen. „Die Gegenwart der Erinnerung” - so der Titel der ersten Geschichte - weist bereits darauf hin. Ein junger Komponist nimmt an einem Fest teil, das er vor einem Jahr schon miterlebt hat. Es ist gleich organisiert wie das erste; die-selben Gäste sind geladen, dieselben Gespräche laufen ab, dieselben Vor-gänge wiederholen sich, „alles istiden-tisch”. „Als ob in meinem Kopf die beiden Teile auf je einer durchsichtigen Folie identisch abgebildet und dann deckungsgleich übereinander gelegt seien.”

Realität und Fiktion fließen inein-ander über, dieselben stereotypen Empfindungen kehren mit mathema-tischer Regehnäßigkeit wieder. Alle sind Opfer der Gewohnheit und resi-gnieren, wiederholen apathisch schon längst Gesagtes. Die Zeit ist zur Erinnerung geworden, die Wahrheit liegt eingebettet zwischen Stumpfheit und Hoffhungslosigkeit. Der junge Komponist möchte sich dem entziehen, durchschaut zwar die immerwieder-kehrenden Abläufe, findet aber selbst nicht die Kraft, dagegen etwas zu un-ternehmen.

Auch in der zweiten Erzählung „Gradus ad pamassum” steht ein junger, erfolgloser Komponist im Mittel-punkt des Geschehens. Auch hier wird die Erinnerung an Vergangenes, die Erinnerung als Lebensersatz, als Flucht vor der Gegenwart, problema-tisiert. Zwei Brüder besuchen ihren ehemaligen Klavierlehrer. Längst ver-gessene Situationen und Erlebnisse tauchen wieder auf. Die Vergangenheit wird wieder lebendig, dieselben Gespräche, Bewegungen, Probleme kehren wieder, als habe sich nichts ge-ändert. Die lange Zeit dazwischen war nur ein totes Rasten, ausgefüllt von Gewohnheiten und lähmenden AU-tagsabläufen. Die eigentliche Gegenwart ist nie gelebt worden.

Die beiden Erzählungen sind Gleichnisse. Es geht um das zentrale Problem jedes Künstlers, sich der Macht der Gewohnheit zu entziehen, aus dem Alltagstrott auszubrechen und die eigenen Ansprüche und Ideen zu verwirklichen. Wie kann ein künst-lerischer Mensch zum Besonderen, „Unerwarteten” finden, welchen Preis muß er dafür bezahlen?

Jonke hat konsequent darauf ver-zichtet, Nebensächlichkeiten auszu-malen; er konzentriert sich ganz auf das zentrale Motiv, beleuchtet es von alien Seiten, kreist es gewissermaßen ein und verdichtet damit sehr die Aus-sage. Er hat sich von seinen anfängli-chen fbrmalen Sprachspielereien di-stanziert, sein Stil ist knapper geworden, ufert nicht mehr bei jeder Gele-genheit aus. Es scheint, als habe Jonke zum schlichten, unpathetischen Er-zählen gefunden.

Man sollte sich nur fragen, ob der Jonkesche Pessimismus - letztlich scheitern seine Protagonisten in ihrem Bemühèn - auch gerechtfertigt ist. Trotzdem; ein dichtes Buch, das zum Nachdenken anregt.

, SCHULE DER GELÄUFIGKEIT. Von Gert F. Jonke, Suhrkamp-Ver-lag, Frankfurt am Main 1977, 177 Seiten, öS 138,60.

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