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Die Verbrecher kommen
Wirklichkeit und Spiel vermischen sich. In der Zeitung steht: Die Entführer holten sich einen jungen Mann, schleppten ihn in einen verlassenen Bunker, ketteten ihn an die Mauer und ließen ihn verhungern. Ist es die TV- Kritik von gestern Abend? Ist es der Polizeibericht? Die Gangster holten sich einen jungen Mann, zwängten ihn in eine Kiste, zerquetschten ihm dabei die Lunge und brachen ihm zufällig die Wirbelsäule. Haben die Gangster so etwas im kleinen Kino an der Ecke gelernt oder sind die Filmemacher bei den Gangstern in die Schule gegangen? Die Räuber holten sich einen jungen Mann, schlugen ihn am Rand eines
Gewässers halbtot, warfen ihn ins Wasser, sahen, daß er noch lebte, zogen ihn ans Ufer und brachten ihn um. Haben die Räuber bei den Gangstern gelernt und die Entführer bei den Terroristen oder umgekehrt? Wer macht hier wen nach? Wo ist der Teufelskreis zu brechen?
Zeitungsleser durchfliegen die neueste Gruselgeschichte und legen die Gazette gelangweilt zur Seite. Schon wieder nichts Neues. Oder sie halten den Atem an und verfolgen Tag für Tag die neuesten Ergebnisse der Fahndung. Aber auf den Schirm ihres Fernsehgerätes starren sie beim Krimi genauso erregt. Die Zeitungsberichte sind ja auch bloß Kriminalgeschichten. Und der Verbrecher in der Nachrichtensendung der TV sieht nicht anders aus als der Verbrecher im Tatort.
Manchmal, besonders in intellektuellen Kreisen (oder wenn man in Gesellschaft bereits alle möglichen Themen durchgekaut hat) wird auch diskutiert.
Die einen sagen: Ja, da nützt nichts, die Todesstrafe muß her. Die anderen sagen: Nichts zu machen, das sind Symptome des sterbenden Kapitalismus. Manche meinen: Die Erziehung zum Leistungsdenken ist notwendigerweise Erziehung zur Brutalität. Andere behaupten: Sadisten hat es immer gegeben, bloß haben sie sich früher im Krieg gegenseitig umgebracht; in langen Friedenszeiten machen sie sich eben als Zivilisten bemerkbar. Jemand erklärt: Die permissive Gesellschaft gibt auch den Verbrechern das Gefühl, daß hier alles erlaubt ist. Ein anderer entgegnet: Die Gesellschaft müßte noch viel mehr erlauben, heilen und verstehen, dann gäbe es keine seelischen Deformationen und also auch keine Kriminellen. Ein dritter sagt: Die Massenmedien sind schuld. Ein vierter, ein fünfter, ein sechster gibt zu Bedenken…
Währenddessen wird ohne Unterlaß weiterhin entführt, gefoltert, gemordet, und wir sind so frei, das neueste Verbrechen aus der freien Berichterstattung unserer freien Zeitungen sogleich zu erfahren.
Aber sind wir auch so frei, unsere Freiheit gegen Kriminalität wirksam abzusichern? Oder soll unsere Gesellschaft allmählich zurücksinken auf die längst überwundene Entwicklungsstufe jener ländlichen Siedlungen, die sich der verbrecherischen Gewalt jedes Räuberhauptmannes beugen mußten? Und sollen wir einen derarti gen Rückfall vielleicht gar für Fortschritt halten?
Wir sind keine hysterischen Schöngeister. Wir hatten das unwahrscheinliche Glück, die Mordmaschinen der Herren Hitler & Stalin zu überleben. Freunde sind hinter dem Stacheldraht umgekommen. Wir wissen, was gespielt wird. Der neuen Welle der Brutalität kann man mit vielen schönen Worten nicht wirksam entgegentreten. Es gilt, diese Vermischung von Spiel und Wirklichkeit zu beenden und den zerstreuten Zeitungsleser und abgestumpften Fernseher aus seiner Lethargie wachzurütteln. Wer angesichts der wachsenden Brutalität nichts besseres weiß, als uns alle beschwichtigen und das Übel verharmlosen zu wollen, der macht sich mitschuldig an der Brutalität.
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