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Die Verösterreicherung der Welt

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Die Verösterreicherung der Welt schreitet unaufhaltsam vorwärts. Es wird möglicherweise noch Jahrhunderte ‘dauern, bis dieser Prozeß abgeschlossen ist; aber in österreichischen Zusammenhängen spielt ja die Frage nach der Zeit keine große Rolle.

Vielleicht sollten wir uns korrigieren und das Wort „vorwärts“ als mißverständlich streichen; „vorwärts“ deutet eine Richtung an, ein Ziel oder eine Absicht, der Prozeß der Verösterreicherung jedoch wird gerade durch seine gänzliche Unbestimmtheit und Ziellosigkeit charakterisiert. besser wäre es also, zu sagen: Die Verösterreicherung breitet sich unaufhaltsam aus.

Man hat diesen Prozeß zu betrachten als einen Vorgang lustvoller Demoralisierung, der mit zunehmender Schnelligkeit ein seit zwei Jahrtausenden bis zum Irrsinn hochgezüchtetes Problemibewußtsein ruiniert beziehungsweise allen im Laufe dieser Zeit entwickelten sogenannten Wahrheiten die Thronsessel unter den Hintern wegzieht, so daß sie klatschend auf den Boden des gesunden Menschenverstandes fallen und sich als das entpuppen, was sie sind: als bloße zeitbedingte Vorurteile.

Die Verösterreicherung beginnt also (und endet!) mit der plötzlichen und beglückenden Erkenntnis, daß nichts mehr wichtig oder vielmehr: daß alles gleich wichtig oder gleich unwichtig ist.

Wo aber relativiert wird, entsteht Freiheit. Und die Relativierung, diese höchste aller Künste, ist das Mittel, mit dem sich die Verösterreicherung unaufhaltsam ausbreitet.

Wie aber soll ein Österreicher den, der es nicht ist, vor falscher Interpretation des eben Gesagten bewahren? Er findet es schon schwierig genug, ein Österreicher zu sein; wie schwer, so denkt er voller Mitleid, doch ohne Selbstüberhebung, muß sich da erst ein Nichtösterreicher tun!

Versuchen wir es dennoch, letzterem die Sachlage genauer zu erläutern.

Zunächst: Die Demontage der kategorischen Imperative und die Relativierung des Seienden sind weder Ausdruck noch Erlaubnis zu Bequemlichkeit, Nichtstun und lethargischer Gleichgültigkeit. Auch sind sie nicht Äußerungen eines puren Zynismus. Nichts wäre falscher als das. Bequemlichkeit, Faulheit und Dickfelligkeit sind uns Österreichern in angemessener,

aber keineswegs übertriebener

Weise eigen. Zynismus mag bei uns freilich etwas häufiger auffcreten als anderswo, doch ließe sich das allenfalls als Beweis dafür werten, daß wir aus dem Lauf der Geschichte ein bißchen was gelernt haben. Gleichgültigkeit aber darf unseren Leuten schon gar nicht nachgesagt werden — dazu lieben sie viel zu sehr den grundsätzlichen und jederzeitigen Widerspruch gegen alles und jedes und am meisten gegen sich selbst. Und überhaupt geht es uns (wenn es uns überhaupt um etwas geht!) um weitaus Höheres (oder Tieferes) als um Bezüge zur Gegenwart oder gar zur Zukunft. — Gegenwart und Zukunft sind immer mies.

Unser ganzes Interesse gilt der Vergangenheit. Und zwar einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat und die nur ein Mythos ist, eine Legende von Heiterkeit und Würde, von Nichtunterscheidung zwischen Menschlichem und Göttlichem. Ja, wir wollen jene nie vorhanden gewesene Vergangenheit wiederherstellen, in der zwischen Märchen und Sachbericht, zwischen Phantasie und Logik keine Trennung bestand.

Oder vielmehr: wir wollen es gar nicht einmal, aber es treibt uns dahin.

Die Verösterreicherung bezweckt also (sofern man ihr einen „Zweck“ überhaupt unterlegen kann) die in die Zukunft projizierte Wiederherstellung nichtgewesener Vergangenheit. Sie stellt gleichsam eine Progression zu antikischen Zuständen dar. Immerhin ist ja Österreich, wie jeder Geschichtskundige weiß, der legitime Erbe des alten Griechentums. Man sollte sich daher nicht wundem, wenn es aus dieser Tatsache endlich auch gewisse Konsequenzen zieht.

Und so sehen wir denn allerorten Landsleute die Verösterreicherung der Welt kräftig vorantreiben. Mit unerbittlicher Liebenswürdigkeit entziehen sie sich der Konfrontation mit scheinbar unlösbaren Problemen, um sich ihnen von hinten zu nähern, welche Position ihnen sodann Gelegenheit zu meisterhaft ausgenützter Dissimulation, das heißt zur Problemauflösung und Prinzipiendemontage, gibt.

Da der Österreicher keinerlei Wert auf den Erfolg dessen legt, was er betreibt;

da er es aus der (vermutlich in der Antike wurzelnden) Tradition seines Landes gewohnt ist, aussichtsreiche Schlachten aus Taktgefühl, vielleicht auch aus Unlust, zu verlieren, die aussichtslosen aber mit einiger Regelmäßigkeit zu gewinnen;

da er als Angehöriger eines machtlosen Landes seine Anpassungsfähigkeit besonders zu steigern gezwungen war, und dabei gewisse Eigenschaften — wie zum Beispiel einen sowohl aggressiv wie auch defensiv verwendbaren Charme produziert hat, gegen die, soweit wir es beobachten konnten, kein Kraut gewachsen ist;

da er ein tiefes Verständnis für das Wesen und die Bedeutung des Bürokratischen hegt und das, was anderen Nationalitäten zu langweilig oder zu unbehaglich ist, nämlich das Administrieren, mit einer Art von Wollust zu betreiben imstande ist;

und endlich, weil er sich all dieser Voraussetzungen und Eigenschaften rücksichtslos (doch ohne bestimmte Absicht) zu bedienen weiß, reüssiert er im Ausland, gewöhnlich sehr rasch — meistens zur Verblüffung seiner Landsleute. In Österreich gibt es halt viele Österreicher, die nicht aufeinander hineinfallen und daher für außerösterreichische Erfolge bestens vorbereitet und trainiert sind.

Es verhält sich somit das österreichische zur Welt ungefähr so wie ein heißes Messer zu einem Butterbatzen: es rutscht widerstandslos mitten durch ihn hindurch.

Man mag die Verösterreicherung der Welt begrüßen oder beklagen, aufzuhalten ist sie nicht mehr. Aus unserer Prinzipienlosigkeit werden Rosenranken hervorwachsen und mit keineswegs naiver Unschuld die Mechanismen der Computer durch- einanderbringen. Heerscharen bekehrter Marxisten werden vor den Standbildern des heiligen Konrad Lorenz anbetend in die Knie sinken, der die Welt gelehrt hat, daß das Böse nur eben so genannt wird (das Gute natürlich auch); aus den Betonmauern des späteren 20. Jahrhunderts wird hellenischer Akanthus sprießen, der Geist des Herrn (Sir) Karl Popper leichthin über den des Herrn Marcuse triumphieren, und hinter allen wichtigen Schreibtischen dieser Welt werden fleißige österreichische Beamte sitzen und selbst die Flammen der Hölle mit dem doppelkohlensauren Natron ihrer Akten auf erträgliches Sodbrennen herabmildern. Lächelnd werden sich die Völker unter das sanfte Joch des österreichischen Prinzips beugen und „Ja, ja, ja!" schreien, wenn der große Kasperl auftritt und sein „Seid ihr alle da?“ ruft. Und siehe da, in Wirklichkeit wird es Dionysos sein, der sich nur eine lange Kasperlnase umgebunden hat. Aber dann werden hinter der Bühne auch schon all die anderen Götter stehen und auf ihren Auftritt warten: der wolkenversammelnde Zeus, der fast so aussieht wie Professor Freud, und die kuhäugige Hera, die interessanterweise der Frau Pluhar ähnelt, und der höflich lächelnde Hermes — ei, gleicht er nicht einem nackichten Herrn Waldheim, wenn man von den Flügeln an seinen Füßen und einem im ganzen doch marmorneren Gesamteindruck absieht? Wenig überzeugend wirkt freilich Ares in der Uniform eines Bundesheerbrigadiers, aber er spielt weiter keine Rolle denn nun tritt im Ephebenkostüm ä la Herzmanovsky Artemis hervor, leuchten die Euleniris der unvergleichlichen Athene auf, taucht sieghaft aus dem trüben Schaum vergangener Gegenwarten Aphrodite empor und erscheint endlich der Herrlichste von allen, Apollo, schüttelt dem Kasperl brüderlich die Hand und zupft auf seiner Kithara so lange träumerisch die Melodien des Menuetts aus „Cosi fan tutte“, bis die Chinesen Tarock zu spielen anfangen.

Und spätestens der übernächste Papst wird auch ein Österreicher sein und kraft seines Amts in Sankt Peter das grandiose Kunterbunt, — sprich: Paradies auf Erden, einläuten.

Aus dem Roman „Die große Hitze“ von Jörg Mauthe, Verlag Fritz Molden, Wien- München-Zürich.

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