Chats: Wohin mit den garstigen Wörtern?

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So wichtig es ist, die Korruptionssümpfe trockenzulegen, so wichtig erscheint es, auch in der digitalen Kommunikation ein gewisses Maß an kontrollfreier Privatheit zu garantieren. Ein Gastkommentar.

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So wichtig es ist, die Korruptionssümpfe trockenzulegen, so wichtig erscheint es, auch in der digitalen Kommunikation ein gewisses Maß an kontrollfreier Privatheit zu garantieren. Ein Gastkommentar.

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Im kleinbürgerlichen Provinzmilieu, dem ich meine gute Kinderstube verdanke, waren Anstand und Höflichkeit Kardinaltugenden: ordentlich grüßen; keine garstigen Wörter aussprechen; nur dann antworten, wenn man gefragt wird, dann aber laut und deutlich. Angesichts einer misslungenen Schularbeit vor den Ohren des Lehrers „Scheiße“ zu sagen, wäre ein Tabubruch gewesen, und einem Polizeibeamten gegenüber sprachlich zu entgleisen, hätte eine Anzeige nach sich gezogen.

Für den öffentlichen Raum der Fünfziger- und Sechzigerjahre galt eine eher strenge Sprachordnung. Umso deftiger ging es im geschützten Privatbereich zu. War die ungeliebte Lehrerin aus dem Klassenzimmer verschwunden, wurde über die „blöde Blunzn“ gelästert; und den Mitschüler, der mich aus dem Hinterhalt mit dem nassen Tafelschwamm bewarf, titulierte ich ungeniert als „Arschloch“.

Wir Achtundsechziger sind nicht nur die Generation der politischen Weltrevolution, sondern auch die des antiautoritären Urschreis (Arthur Janov), mit dem wir uns von „repressiver“ Affektkontrolle und „verlogener“ Höflichkeit befreiten. Mach auf! Lass es zu! Befreie dich – und alle anderen gleich mit! Diese anderen wurden allerdings bald zum Problem, manche sogar zu jener Hölle, von der Sartre gesprochen hatte. Denn nicht nur die „guten“ Kritiker(innen) des Kapitalismus, des Patriarchats, des Faschismus und der katholischen Sexualmoral öffneten vernehmlich ihre Herzen, sondern auch die „Bösen“, denen es völlig egal ist, ob ihre Äußerungen als rassistisch, frauenfeindlich oder islamophob eingestuft werden.

Notwendige Sprachordnung

Was tun mit dem unberechenbaren Gespenst der Redefreiheit? Political correctness und cancel culture, das ist (auch) die Panikreaktion des Linksliberalismus auf das von ihm selbst verschuldete Freiheitspathos. Der ganz und gar befreite Mensch ist nicht per se glücklich und sittlich wohlgeraten, er ist auch aggressiv, ungerecht und wird von unberechenbaren Affekten getrieben. Der illusionslose Blick auf die conditio humana beweist nicht nur, dass wir eine Rechtsordnung brauchen; um des sozialen Friedens willen brauchen wir auch eine Sprachordnung, soziale Normen der Kommunikation. Aber wie legen wir sie an?

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