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Episches Sachbuch

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Franz Turniers kaum verhohlene, wenn auch vornehm beherrschte Abneigung gegen die Innerösterreicher, kann sich nicht auf tirolisches Ahnenerbe berufen; vielmehr entstammt sie mit aller Deutlichkeit dem großdeutschen Romantizismus des Linzer mittleren Bürgertums, von dessen unverkennbarer und unwiederholbarer Aura in der Zwischenkriegszeit Kindheit und Jugend des Dichters geformt wurden. Mit den ersten Exzessen Hitlers nach dem Anschluß Österreichs zerbrachen in diesem sehr gutgläubigen, geistig sehr regsamen und nach außenhin sehr kontaktlosen bürgerlichen Kreis die Illusionen, zerbrach schließlich mit dem Ende des Großdeutschen Reiches das Fundament des bisherigen Daseins. Für immer dahin war damals die eine Komponente aller Jugend- und Freiheits- bewegtheit, die nationalistische: für immer dahin der Traum von baldiger Flucht in ein idealdeutsches Reich, das es nun auch in bitterer Realität nicht mehr gab. Was blieb, war die zweite Komponente der Jahre 1789 und 1848, die Sozialrevolutionäre, mit ihrer im re-demokratisierten Raum der amerikanischen Satellitenwelt geförderten Tendenz zur nachträglichen Schematisieiung geschichtlicher Vorgänge. Da diese zeitgemäße Schablone aber auf Tirol nicht anwendbar ist, da ein Volk von allzeit und prinzipiell Freien nur zu konservativer Rebellion, nicht aber zu Umsturz und Revolution fähig ist, sucht und findet Turnier den genialen Ausweg, die tirolische Geschichte der letzten Jahrhunderte, also eigentlich Tirol zur Gänze und seinem Wesen nach in Frage zu stellen: der große Irrtum Tirols begann für ihn 1363 mit dem Anschluß an Österreich; Rettung wäre ein Anschluß an die Eidgenossenschaft gewesen, eine echte

Flucht — diesmal nicht ins Reich, sondern, revidiert: Flucht vor dem Schicksal, auf eine Insel der für immer demokratisch Seligen, hinter den sieben Bergen, fern dem Reiche, fern von Europa, fern der Welt. Weil aber die tirolischen Stände von 1363 den Irrtum begangen hätten, sich für Habsburg-Österreich und damit für Europa und die Welt zu entscheiden, habe das Schicksal begonnen, in Stürmen über das Land im Gebirge hinwegzurollen, habe alles Unglück bis zur Teilung seinen Anfang genommen. Vor dem Hintergrund dieser grandiosen Utopie entfaltet Turniers Südtirolbuch seinen nicht minder grandiosen Inhalt:

Man wird in Hinkunft nicht über Südtirol sprechen dürfen, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Menschen — was für Menschen! Landschaft — was für eine Landschaft! Geschichte — was für eine Geschichte! Was Turnier beschreibt, entfaltet, darstellt, lobpreist, hat er, sehr subjektiv, so und nicht anders erlebt, gespürt und gesehen; gesehen mit dem freien Auge, mit dem Fernrohr, sogar mit der Lupe. In Augenblicken freilich, in denen seine Erzählung und sein Schildern den genau umgrenzten B-./den Tirols verläßt, wird manches unscharf, die Dinge verschwimmen sozusagen und es wird etwa dem Erzherzog Johann an Stelle seiner Postmeisterstochter Anna Plochl eine Erzherzogin Elisabeth als Gemahlin angedichtet, die in Wirklichkeit Johanns unverheiratete Tante war, oder das ungarische Esztergom wird aus unerklärlichen Gründen zu einem im Ungarischen nicht buchstabierbaren „Estergöm“… und was eben der Dinge mehr sind, die man aufzählen müßte, wollte man noch länger bei ungerechten Haarspaltereien verweilen. Gerecht ist es nämlich, bei diesem Buch, das ein Sachbuch werden sollte und (Gottlob) ein Epos wurde, nicht bei den utopischen Hintergründen und nicht bei den dichterischen Freiheiten des Inhalts stehen zu bleiben, sondern die Merkmale aufzuspüren, die ein langes und breites Stück Prosa nun tatsächlich zur Dichtung machen, Gestaltungskraft und Form:

Strömende, weite, große und herrliche Form, die kaum noch den Vers verschleiert, von dem sie in Wirklichkeit getragen wird, wunderbarer Rhythmus der Sprache, der mit der Zeile richtig ansetzt und gelassen ausschwingt, bis das neue, zündende Wort zum Sprung ansetzt. Unverbrauchter, immer wieder überraschender Bau dieser Sätze, die niedersinken und wieder aufrauschen auf ihrem Weg, der meisterlich in Mäandern verläuft und alles umfaßt, umschlingt, was am Wege mitzunehmen war und nicht vergessen werden durfte. Damit wirklich alles gesagt sei, was es den Dichter zu sagen drängte, weil es (zwar nicht die Wirklichkeit, aber) seine persönliche Wahrheit war. Das Epos von Südtirol, das aus der Enge des Ge- birgslands ohne eigentlichen Endpunkt hinausfließt ins Unbegrenzte erträumter Gestalt und gestalteten Traums.

DAS LAND SÜDTIROL. Menschen, Landschaft, Geschichte. Von Franz Turnier. Erschienen 1971 im Verlag R. Piper & Co., München. Leinen, 485 Seiten, DM 28. —.

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