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Europa bleibt geistig weiter gefährlich

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Ver die Präsenz des geisti-/ gen Europa im heutigen

Nordamerika erfahren Lehme ein Dutzend Exem-der Zeitschrift „The New \eview of Book" zur Hand, r wird über Novalis und , deutsche Plastik der Re-lce und Picasso, italienische, :he, russische und öster-che Köpfe des geistigen Eu-nit dem Background unse-iechischen, römischen und ilterlichen Vergangenhei-iche Belehrungen erfahren.

geistige Europa ist eine iz in russischen Schriftstel-ie in der Hölle ihrer Lager i von Gregor von Tours bis n unser Jahrhundert erin-als Lebens-Hilfe erfahren, nke nicht an Solschenizyn, 1 etwas von den Feuern des i gegen den lateinischen ti lodert wie in Dostojewski, h zugleich von vielen west-iischen geistigen Quellen . Ich denke an Menschen jnstantin Sinjawski. geistige Europa ist eine ge-/virklichkeit in ganz Osteu-Eine Rundreise, beginnend dlinn und Tartu, über War-

schau nach Krakau, weiter nach Prag, Budapest, Bukarest, dann über Ljubjlana und Zagreb in die „Weiße Stadt" Belgrad zeigt: Kein eiserner Vorhang, keine Zensuren, kein Regime hat in Osteuropa diese Präsenz des geistigen Europa auszulöschen vermocht.

Heute ist man weithin stolz dort auf die Pflege geistiger Kontakte — und von Forschungen, die

gerade auch westeuropäischen Geistern gelten: in Moskau, von Meister Eckhart bis Heinrich Boll (man erschrecke nicht: Europa ist eine Uber-Fülle von Gegensätzen, oder es ist nicht!). In Georgien hat Divid Dawlianidse, in Moskau Tatjana Anatoljewna Swietelskaja (1941-1949) Robert Musil den Völkern der Sowjetunion zu erschließen begonnen.

Der Vater dieser großen Frau, Tatjana, fiel 1941 an der Front: sie "hat ihn nie gesehen. Das Kind wurde im Strom der Flüchtlinge mitgetragen. Dieses russische Kind wählte sich als geistigen Vater, vielleicht auch Vater-Bruder, den Robert Musil, einen geborenen Kärntner.

Marx, Freud - gestern, mehr gestern als heute - und eine Fülle europäischer Dichter, Denker, geistige Köpfe, werden heute wenn nicht als geistige, als geistliche Väter, so doch zur Entbindung der eigenen Wort-Mächtigkeit, in allen Kontinenten von jungen Menschen berufen.

Geistiges Europa: eine andere Frage, eine echte Gretchen-Frage, ist diese: wie, wo lebt dieses Europa heute etwa in deutschen Landen? Wer sich über den Kahlschlag, die geistige Sprachlosigkeit, die Verkümmerung, die Ver-krümmung, die vielen Armseligkeiten ärgert, die heute täglich bei uns zu erfahren sind, in denen weithin Alphabeten an der Macht sind, im Show-Geschäft den Ton angeben, Besitzer also eines kleinen Alphabets ihrer Interessen, sollte sich erinnern lassen: Die Engführungen falten sich kontinuierlich aus: wobei Goethes Todesjahr, 1832, oft als Wegmarke angesehen wird - es wurde eng und enger, ängstlicher und aggressiver in diesem unserem 19. Jahrhundert, daß sich in der ganzen Breite der bereits in ihm angelegten Barbareien im 20. Jahrhundert entfaltet.

Europa in uns: das geistige Europa in uns, hatte sich in den Jahren, in denen unser schrecklicher engerer Landsmann Deutschland in seinen eigenen Selbstmord in Raten hineinriß, sehr verengt: bis zu letzter Verengung in der Person eines preußischen Geheimrats jüdischer Herkunft, der, mit seinen Koffern auf die Versendung wartend, nicht emigrieren wollte, da er - bis zum Ende - an das

Volk der Dichter und Denker glaubte.

Unser geistiges Europa überwintert und übersommert gegenwärtig vielfach „auswärts', wie hier angedeutet. Gleichzeitig wächst es, recht kräftig, in jungen Menschen, in Künstlern, Dichtern, Schriftstellern, in wachen Existenzen sehr verschiedener weltanschaulicher und politischer Herkünfte und Auskünfte (Auskunft: die Worte, die ein Mensch äußert, wenn er auf seine Intim-Situation hin befragt wird).

Geistiges Europa: es ist keine Ware, keine Sache, keine Wort-Mache, die sich auf Kongressen, in „kulturellen Veranstaltungen" realisiert, sich inkarniert. Europa wächst ohne Deklarationen — auch ohne Zolldeklarationen.

Es wächst heute ein anonymes Europa-Bewußtsein, das seine spezifisch europäische Reaktionsfähigkeit in Krisen, in Konfrontationen — gerade von Person zu Person — oft sehr überraschend, vital, bezeugen kann.

Jenseits eines fatalen Defätismus und eines „ruchlosen Optimismus" (Schopenhauer) haben die Töchter und Söhne dieses geistigen Europa in Europa und in anderen Kontinenten noch einiges zu erwarten. Die Explosions-kraft des Vulkans Europa - Geist ist Feuer, das wissen Origenes und Pascal - ist nicht erschöpft. Also bleibt auch die Gefährlichkeit erhalten: dieses alten und sehr jungen Europa.

Mit freundlicher Genehmigung

des Nachlasses Friedrich Heer

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