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Gefahren der Simplifizierung

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Was soll man wohl zu diesem Buch sagen? Ein Dr. Erhärt Eppler hat dazu eine „Vorbemerkung“ geschrieben — und das erübrigt einigermaßen einen Kommentar. Der Herausgeber erzählt uns, daß dieses Buch „für den Unterricht“ bestimmt sei, „fürs Lernen“, „für Jungen und Mädchen“. Die werden zweifellos an den Ausdrücken unterleiblicher Funktionen ihre helle kichernde Freude haben. Die Lektüre ist keineswegs langweilig, Poesie und Prosa sind gut übersetzt. Nur ein weltfremder Esel würde verlangen, daß sie nicht ausnahmslos dem linken Lager entstammen.

Die Einführungs-Kommentare besagen alles, was wir „schon lange wissen“: daß das Elend der Dritten Welt durch den Kolonialismus, den Neokolonialismus, die Internationalen Gesellschaften, die Großgrundbesitzer und die neue herrschende Klasse verursacht wird. Das stimmt aber nur zu geringstem Teil. Wir werden aufgefordert uns an die Brust zu schlagen: Das, natürlich, ist ein rasanter Unsinn — außer wir erinnern uns daran, daß dank der Achse Washington-Moskau, die sich im Antikolonialismus hinauflizitier- te, die für das moderne Leben völlig unreifen Kolonialvölker (die den Mutterländern ein Vermögen kosteten) in die „Freiheit“ entlassen wurden. Das war ein Verbrechen — wird aber nicht erwähnt. Die Spanier, die vor 150 Jahren Lateinamerika aufga- ben, wurden physisch hinausgeworfen. Sie sind zu entschuldigen. Auch dort forderte die Unabhängigkeit greuliche Opfer…

Die Länder, die ein Europa ähnliches Arbeits- und Sittenethos hatten, die Ostasiaten, können sich heraufarbeiten. Aber die anderen? Die sich weigern, das „protestantische“ Max- Webersche Wirtschaftsethos (und Arbeitsethos!) zu akzeptieren? Sie werden auch in der Zukunft den Lebensstandard Japans, Koreas, For- mosas nicht erreichen und sich mit dem Niveau begnügen müssen, daß sie ein Minimum oder gar keinen Kolonialismus erlebt hatten: Abessinien, Liberia, Afghanistan, Bhutan.

Immer wieder wird hier auf diesen Seiten der Eindruck erweckt, daß die Europäer, die in ein politisches Machtvakuum vorstießen, blühende Kulturen und idyllische Primitivkulturen vernichtet hätten. Aber wer die Überseegeschichte kennt, sieht es anders. Die Zenanyana, die „Böse Nacht“ in Dahomey, die Schrecken von Benin, die Scheußlichkeiten deä Aztekenreiches, die Ungeheuerlichkeiten Ugandas, die gräßlichen Details der arabischen Sklavenjagden, mit den darauffolgenden Massenkastrationen, davon hören wir nichts.

Uber das Problem der Rohstoffe darf man die Perspektiven nicht verlieren. Arbeitseifer, Zucht und Organisationstalent wiegen bedeutend schwerer. Auch die Erfindergabe. Freilich, wenn wir so weitermachen (wie wir es augenblicklich tun) könnte es auch uns passieren, daß wir völlig auf die schiefe Bahn geraten und die Dritte Welt, die sich fleißigst vermehrt, uns eines Tages an die Wand drückt. (Im Jahre 2000 werden in Österreich auf 4 Arbeiter 10 Pensionisten kommen). Wenn eines Tages die Politik der Erpressungen, jetzt große Mode in der Dritten Welt, keine Resultate mehr zeitigt, könnte es ihr einfallen, die durch Schuldkomplexe (und andere Dekadenzer- scheinungen) demoralisierte Erste und Zweite Welt zu überfluten und zu erobern. Ähnliches passierte Rom zur Zeit der Völkerwanderungen. Wie lange es dann wohl dauern würde, bis man wieder ein „römisches Niveau“ erreichte? 800 bis 900 Jahre?

Die Kommentare in diesem weinerlich-wütigen Band lassen hie und da (für den sehr aufmerksamen Leser) die Katze aus dem Sack. Das aber wird kaum genügen, dem Masochismus des Westens entgegenzuwirken. Wenn wir wirklich ein Europa der Vaterländer anstreben, dürfen wir uns nicht, wenn auch indirekt, als eine ausbeuterische Verbrecherbande darstellen. Und der Dritten Welt gegenüber? Ihr schulden wir sicherlich Liebe, aber vor allem — Wahrheit und Aufrichtigkeit.

LESEBUCH DRITTE WELT. Eine literarische Auswahl von Texten aus den Entwicklungsländern, zusammengestellt und mit Kommentar von K. M. Schreiner, Lutze P. Schultze- Kraft, Gesamtkonzeption H. G. Schmidt, Ganzleinen, 356 Seiten, Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 1974.

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