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Gekonntes Handwerk

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Beim Lesen wundert man sich wachsend darüber, diesen Autor nicht in aller Munde zu wissen. Bis man am Schluß und keineswegs enttäuscht, im Gegenteil, begeistert für sein außerordentliches Talent, dennoch zu verstehen glaubt: Das Ganze dieses Romans wendet sich, ohne im Detail irgend Anforderungen quasi höherer Art zu stellen, als Kopiposition an echte Zeitgenossen und überfordert sie damit Natürlich! möchte man hinzufügen, und dabei an die eigene Brust schlagen. Darum auch sinkt ohne den Pfeü des Verständnisses auf den Leser abzuschießen, die auf jeder Seite vorhandene Spannung wieder in sich selbst zurück. Der

Leser ist schuld. Rücksichtnaihme ist nicht anzuraten. Beethovens letzte Quartette stoßen heute noch vor den Kopf, ebenso wie Flauberts letzter und bester Roman „Buvaird und Pecuchet" kaum bekannt ist. An diesen erinnert „Mamma" durch seine eminente und plurale Sachfülle, durch die Akkuratheit der Darbietung. Aber es bleibt dabei: Solange wir in allen Künsten gleichsam „schöne Stimmen und schöne Weisen" sowie unendliche Melodien suchen, werden wir auch die Verlierer bleiben, die wir sind. Das Handwerkliche dieses Romans, an allen trefflichen Mustern erlernt, ist wirklich zum Verwundern gekonnt. Augustin kann es auf berlinerisch so gut wie aai medizinisch, auf kaufmännisch und militärisch, kann es auf immer neue Weise. Dabei vermeidet er die von Max Frisch an Thomas Mann gerügte „kostümierte Essayistik" stets. Alle, auch die gewagtesten, Kunststücke gelingen ihm. Und alle haben die echte Farbe des Lebens, haben Blut und Fleisch. Handelt es sich um die Beschreibung einer örtlichkeit um Venedig etwa, um Bologna, Moskau, Amsterdam, gleich weht es richtig venezianisch, lx>lognesisch usw. aus dem Buch. Obwohl alles von A bis Z erfunden ist, scheint doch alles direkt aus dem Leben genommen zu sein. Den Inhalt sdireiben wir vom Klappentext ab: „Es ist die Beschreibung einer monströsen Erfoigsdrei-

faltigkeit, Verfolg einer Karriere ,unter Brüdern’." — Den Lebensläufen der drei Brüder ist je ein Kapitel gewidmet Vorangestellt ist die Vorausblende ihrer gemeinsamen Hinrichtung mittels einer eisernen Jungfrau. Ein geheimnlsvoM verzerrter und verkürzter Weltkrieg in den Dimensionen von 1870 ist Höhepunkt der Generalskarriere, eine Weltreise jener des kaufmännischen und eine Operation des Chirurgenlebens. Diese Operation ist ein satirisches Meisterwerk und könnte doch zugleich aus einem medizinischen Fachbuch stammen. Und immer alles in das Zwielicht dostojewskischer Doppelgängerei getaucht. Der Berliner Auigustin — von wo sonst könnte er herkommen? — verlangt ununterbrochen Inteliigenz von uns. Das ist etwas unangenehm, dauernd geprüft zu werden: Hast Du das auch verstanden? Ach, du kommst nicht mit. Das ist geschrieben, wie man spricht. In Berlin. Idiomatisch vollendet. Sätze wie: „Wulst Du nicht auf einen Spazier… (schreilje ich) gang, da sitzt der Kleks" oder: „Zeig deine Hände, auau Mama", gehen bruchlos aus dem Mund aufs Papier und ins Ohr. Und die Schulkinder könnten es eines Tages als Kunst vorgesetzt bekommen an Stelle von Stifter und Thomas Mann. Denn es ist Kunst, hohe sogar.

Zuletzt noch eine Garantie: Wer von Seite 280 an eine Leseprobe beginnt, gibt das Buch nicht mehr zurück.

iVfAiVfMA. Roman von Emst August in. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1970. 335 Seiten, DM 22.—.

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