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Digital In Arbeit

Gespielte Entrüstung

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Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache, dennoch sind theoretisch zwei einander völlig widersprechende Erklärungen möglich, die, jede für sich, logisch klingen:

Mit zunehmender sozialer Absicherung (z. B. der 1975 eingeführten Entgeltfortzahlung für Arbeiter) und abnehmender Furcht um den Arbeitsplatz stiegen in Osterreich die Krankenstände rapide an, seit sich auch auf der Insel der Seligen Unbehagen breitmacht, verbessert sich auch der Gesundheitszustand der österreichischen Arbeitnehmer wieder sprunghaft. Während Österreichs Arbeitnehmer 1974 im Durchschnitt 14,2 Tage krank waren, fehlten sie im Vorjahr wegen Wehwehchen schpn rund 17 Tage.

Seit der Freisetzung von Arbeitskräften durch die spektakulären Pleiten der letzten Monate gehen nun erstmals auch die Krankenstände zurück.

Weil die Arbeitnehmer aus Furcht um ihren Arbeitsplatz diesen nun auch krank aufsuchen, behauptet Sozialminister Dallinger, Weil in den Zeiten, wo nicht um Arbeitsplätze, sondern um Arbeitskräfte gekämpft wurde, ohnehin zuviel krankgefeiert wurde, meint die Wirtschaft. Denkbar sind, wie gesagt, beide Erklärungen. Realistisch ist eher letztere.

Da sind zunächst einmal die signifikanten Unter-schiede in’ der ‘Krankenstandsdauer zwischen West-und Ostösterreich zu nennen, die dem traditionellen West-Ost-Gefälle der Arbeitsmoral sicher nicht zufällig voll entsprechen. 1979, also einem Jahr noch ohne ausgeprägte Krisenerscheinungen, wurde in Tirol im Durchschnitt pro Arbeitnehmer für lOß’Tage Krankenstandsentgelt gezahlt, in Salzburg waren es 10,6 und in Vorarlberg 12,2 Tage. In Wien dagegen 14^, in der Steiermark 14^ und in Oberösterreich 14,8 Tage.

Aber auch ohne die Statistik zu bemühen, weiß ohnehin jeder aus eigener Erfahrung in seiner Umgebung was hier in den letzten Jahren gespielt wurde: An den sogenannten Fen^ertagen (Tage zunschen einem Feiertag und dem Wochenende) mußte praktisch in allen größeren Betrieben mit „krankheitshalber" stark reduzierter Belegschaft das Auslangen gefunden werden, bei manchen Arbeitnehmern kann man sich darauf verlassen, daß sie krank sind, wann immer ihre Kinder schulfrei haben. Und wer kann nicht aus seinem Bekanntenkreis zig Beispiele nennen, wo ein rauschendes Fest mit einem überraschenden Krankenstand am nächsten Tag seinen Ausklang fand?

Die Zeiten, wo das Krankfeiern ohne Konsequenzen möglich war, von Ärzten und gelegentlich auch Unternehmern (auš Mangel an Aufträgen) gefördert und von der Gesellschaft augen-zvnnkemd toleriert vmrde, neigen sich dem Ende zu. Das mag für viele unbequem und ärgerlich sein. Es ist aber bestimmte kein Grund jetzt scheinheilig und mit gespielter Entrüstung so zu tun, als ob es die liederlichen Zeiten nie aeaeben hätte …

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