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Gewöhnung an Gift?

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Die Kapitulation vor der Inflation

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Die Kapitulation vor der Inflation

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Die sozialistische Alleinregierung will an der gefährlichen Neigung, die Inflation zu bagatellisieren, festhalten, und sich weiterhin darauf beschränken, die Kritiker dieser unguten Praxis des Geschäftes mit der Angst zu bezichtigen. Recht freimütig hat Bundeskanzler Doktor Kreisky jüngst eingestanden, daß die Inflationsrate in nächster Zeit monatliche Spitzenwerte von etwa sieben Prozent erreichen werde. Dies aber sei, meinte Dr. Kreisky, nicht weiter besorgniserregend, weil einmal der Geldwertschwund in anderen Industriestaaten noch größer wäre und das andere Mal bei einer Aufrechnung von Inflationsrate und Einkommenszuwachs dem Arbeitnehmer per saldo immer noch mehr bleibe als früher.

Beide Argumente sind gefährlich, weil gut geeignet, weite Bevölkerungskreise an das Gift der Inflation zu gewöhnen. Die „Relativitätstheorie“ der Regierung hebt das Inflationsproblem aus der nationalen Sphäre und internationalisiert den konjunkturpolitischen „schwarzen Peter“. Diese „Theorie“ weigert sich, anzuerkennen, daß der inflationäre Wind, der nun schon bald zwei Jahre durch Österreich weht, nicht nur vom Ausland her kommt, sondern zu einem Großteil von der Wirtschaftspolitik der Regierung selbst entfacht wird.

Neuerdings operiert Dr. Kreisky auch mit dem Argument, daß Grund zur Annahme bestünde, daß die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft, die sich in steigenden Kosten und steigenden Preisen manifestieren, ihre Wirkung nahezu vollendet hätten, daß sie die Tendenz zu einem neuen wirtschaftlichen Gleichgewicht zeigten. Er begründet diese Hoffnung mit der eher stabilen Entwicklung des Großhandelspreisindex und mit der sich abflachenden Wachstumskurve.

Es gibt mannigfache Indikatoren, welche die Annahme stützen, daß sich die Beruhigung der wirtschaftlichen Atmosphäre nicht zu einer Konsolidierung auszuwachsen vermag, daß sich vielmehr eine neue Überhitzungswelle am konjunkturellen Horizont abzuzeichnen beginnt. Sollte sich aber das Spannungszentrum weiter verdichten, und die Aussichten dazu sind durchaus vorhanden, so müßte sich die neue Aufschwungsphase auf dem bestehenden, exorbitant hohen Inflationsniveau aufbauen. Österreich hätte unter solchen Voraussetzungen alle Chancen, den Inflationsrekord der Jahre 1971 und 1972 zu brechen.

Ein sehr deutliches Indiz, das diese pessimistische Prognose motiviert, ist die Entwicklung im monetären Bereich. So sind im Februar 1972 gegenüber dem Vorjahresmonat die Kredite fast in gleichem Ausmaß (2,2 Milliarden Schilling) gestiegen, wobei insbesondere die Kreditvergabe der Teilzahlungsinstitute eine weiterhin stark expansive Tendenz zeigt. Aussagekräftig für die Erwartung der Wirtschaft sind vor allem die Kreditzusagen; sie müssen als typisches Frühwarnzeichen aufgefaßt werden. Und hier ist nun eine Expansion festzustellen, die fatalerweise an die Situation des Jahres 1969 erinnert. Die Kreditbeanspruchung ist vorläufig „normal“, aber die Kreditzusagen (in den ersten beiden Monaten dieses Jahres betrugen sie um fast 200 Prozent mehr als im Jänner und Februar des Vorjahres) haben eine beunruhigende Gangart eingeschlagen. Ein weiteres Indiz für eine eher pessimistische Prognose ist die Fortsetzung des Baubooms. Dieser Boom wird derzeit vom gemeinnützig-sozialen und subventionierten Wohnungsbau gespeist, aber es ist anzunehmen, daß der industriell-gewerbliche Bau den generellen Tendenzen im Bausektor bald wieder folgen wird.

Diese Prognose läßt befürchten, daß die konjunkturelle Sicherung in Österreich möglicherweise schon im nächsten Jahr durchbrennen könnte. Der neue Schub würde dann die Endphase des alten Booms überlagern und damit die Preisentwicklung nicht nur nicht mehr zur Ruhe kommen lassen, sondern sie vielmehr unter einen neuen, zusätzlichen Druck stellen. Dann aber könnte Österreich sehr nahe an eine Lage herangekommen sein, die gemeinhin mit dem Begriff der Stagflation umschrieben wird: ein sich zunehmend verschlechterndes Verhältnis zwischen dem realen und dem nominalen Wachstum, ein Kostendruck, der schärfer selektionierend wird als bisher und der den Kampf um die Einkommensverteilung notwendigerweise radikalisieren muß.

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