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Alles hat seine Zeit

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Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit." So heißt es im biblischen Buch Kohelet (Kap. 3). Der Verfasser - er schreibt im 3. Jh. v. Chr. — entfaltet diesen Grundsatz auf das ganze Leben und auf alle Lebensbereiche und Lebens-phasen in all ihren Gegensätzlichkeiten: „... eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen ..., eine Zeit für den Krieg und eine Zeh für den Frieden ..."

Der Abschnitt, der den Schriften der Lebensweisheit des Volkes Israel in der hellenistischen Zeit zugeordnet wird, läßt sich unschwer aktualisieren und weiterführen, gerade in diesen Tagen um den Jahreswechsel. Da war eine Zeit des Feierns, des Lachens, der (oft ausgelassenen) Freude; da war (hoffentlich) auch eine Zeit des Innehaljens, der Stille, der Besinnung. Denn die bestimmte Zeit für jedes Geschehen unter dem Himmel will auch wahrgenommen und genutzt sein, so auch die Zeit für den Wechsel eines Jahres. Der Mensch weiß aus Erfahrung darum, daß ihm jeder Augenblick nur einmal gegeben ist. Er darf ihn leben in der Freiheit seiner Entscheidung, zugleich in

der vollen Verantwortung dafür, auf welche Weise aus der Gegenwart ein neues Stück Vergangenheit wird — bis zur Summe eines ganzen Jahres, das nunmehr vorbei ist.

Die Kunst des Lebens besteht unter anderem darin, die richtige Zeit für jedes Geschehen unter dem Himmel wahrzunehmen, zu ergreifen und zu leben. Im Zentrum steht dabei stets die neue Stunde, das Heute, das es zu bewältigen gilt, nicht die allenfalls verzehrende Unsicherheit bezüglich der Zukunft. „Sorge Dich nicht um das Morgen. Gott ist bereits dort" sagt ein Sprichwort.

Der Beginn eines neuen Jahres ist eine neue Chance, diese Haltung einzuüben. Den Augenblick festhalten, in ihm verweilen, das können wir Menschen nicht; schon Goethe begriff dies als eine unsere Identität in Frage stellende Versuchung. Ihn leben und gestalten im vollen Einsatz unserer Kräfte und Möglichkeiten, das ist hingegen unsere Aufgabe - um zu erkennen, welcher Art die Stunde ist und das Geschehen unter dem Himmel, für das sie uns gegeben ist So erhält Leben, das Gestern, Heute, Morgen, in seiner Abfolge seinen Sinn und schließlich seine Erfüllung.

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