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Herausforderung

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Kaum lag ein neues Jahr so offen vor uns wie das eben begonnene. Die Aufbrüche im Osten haben so viel vorgege- ben, was nun eingebracht wer- den muß. Das ist eine ungeheu- re Herausforderung für alle.

Eine Herausforderung für die Menschen in den freigeworde- nen Ländern selbst. Der Um- gang mit der Freiheit muß erst erlernt, eingeübt werden. Auf- bau in Freiheit verlangt ande- re, oft nicht geringere Opfer ais Durchhalten in Unfreiheit. Gemeinsam gegen ein verhaß- tes Regime zu opponieren, schafft schneller Einheit als mit Andersdenkenden Verantwor- tung teilen zu müssen.

Herausforderung auch für die Kirche in diesen Ländern. Es ist naiv zu glauben, Rußland hätte sich nun bekehrt. Und daß Gorbatschow den Spürsinn habe, nun im Christentum jene Werte zu finden, „die er in sei- nem System vermißte ", ist wohl eher frommer Wunsch als Wirk- lichkeit. Das Scheitern marxi- stischer Ideologie zieht nicht gleich praktiziertes Christen- tum nach sich.

Die Herausforderung der Kirche „drüben" ist nun eine andere. Ihre Rolle war nicht nur seelsorglich, sondern, je nach Ländern verschieden, „politisch". Neben der Schar der Gläubigen sammelten sich dort auch solche, die anderswo ihren Widerstand nicht hätten zeigen können. Das Fehlen des gemeinsamen Feindes aber läßt nun den „Kampfgeist"schwin- den. Ein steigender Lebens- standard wird auch dort für manche den Glauben „entbehr- lich" machen. Die neue Rolle der Kirche in einer pluralisti- schen Gesellschaft zu finden ist äußerst mühsam.

Herausforderung ist das al- les auch für das übrige Europa. Das gemeinsame Haus ist auf einmal viel größer geworden. Darf es darin auf Dauer Woh- nungen unterschiedlicher Ka- tegorien geben? Besteht am Ende die Gefahr, daß die Satel- litenstaaten der Großmacht Rußland nun zu Satelliten ei- ner etablierten Wirtschafts- macht werden? Muß man nicht das Europa von morgen jetzt ganz neu konzipieren? Braucht es nicht neue Formen der Soli- darität, ein neues „Aufteilen", vielleicht sogar unter Verzicht auf manches mühsam Erwor- bene?

Chance und Herausforde- rung ist es, nun gemeinsam zu suchen, was das Europa von morgen zum Leben braucht: Wirtschaft und Sicherheit, Wissenschaft und Kultur, aber vor allem Werte, die das Zu- sammenleben möglich und das persönliche Leben sinnvoll machen. Undwelche Rolle wird die Kirche bei dieser gemein- samen Suche spielen?

In den letzten Monaten des alten Jahres sind wahrhaft Wunder geschehen. Es wird noch mehr Wunder brauchen, daß nur einiges von dem, was nun möglich wurde, auch wirk- lich wird.

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