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Ist aus der Geschichte wirklich nichts zu lernen?

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„Schon im Gymnasium hat der Mastny die überraschende Tatsache erfahren, daß das einzige, das man aus der Geschichte lernen kann, die Erfahrung sei, daß man aus ihr nichts lernt.“ Wirklich das einzige? Muß wirklich jede Generation wieder dieselben Fehler begehen, die die Ahnen auch bereits begangen haben? Oder liegt es nicht vielmehr daran, daß sich jede Generation nur das aus der Geschichte heraussucht, was ihr zur Absicherung der eigenen, vorgefaßten Meinung in den Kram paßt?

Im gegebenen Fall dreht es sich um den Gesandten der Tschechoslowakei in Berlin 1938, zur Zeit der Annexion Österreichs. Er hat noch den Ausspruch seines Präsidenten Benes im Ohr „Lieber Hitler als Habsburg“ und schlägt die Hinweise seines alten Mitarbeiters in den Wind, der an das „serbische Offiziersehrenwort“ von anno 1903 erinnert. Denn unmittelbar vorher hatte Hermann Göring dem Mastny sein Ehrenwort gegeben, das Reich habe keinerlei Absichten auf die ČSR.

Daß Heinrich Drimmel, einst ein Jahrzehnt lang Österreichs Unterrichtsminister in der Mittel- und Spätphase der großen Koalition, tiefgehende historische Kenntnisse mit der Gabe scharfer Analyse und einer be sonderen Darstellungskunst verbindet, hat er bereits mehrfach bewiesen. Nach „Gott erhalte“ im Vorjahr, der Apologie des alten Österreichs, seziert er nun die Geschichtę Mitteleuropas, speziell Deutschlands, zwischen 1918 und 1945 - nicht nur um mit Ranke zu zeigen, wie es war, sondern auch fragend, warum es so war, wo die Wurzeln des jeweiligen Geschehens zu suchen sind, und wohin die Auswirkungen reichen.

Der Terrorismus von heute? Wie wares damals 1918, im Münchner Cafe Stephanie, wo Ernst Toller, Kurt Eisner, Erich Mühsam und wie sie alle hießen, die bayrische Räterepublik konzipierten? Einige von ihnen „überlebten“ die Emigration … In der späteren Bundesrepublik Deutschland lehrten sie Studenten, die unerfahren und leicht zu verführen sind, den Ungehorsam gegen Staat und Gesellschaft. Zeigten diesen die in den USA

entwickelten Modelle einer sexuellen, moralischen, intellektuellen und politischen Revolution. Hetzten diese Jungen gegen ihre nach 1918 mißratene Vätergeneration auf; gegen Väter, die einst die Revolution von 1918 unterdrückt hatten. Und also geschah es, daß vergreiste Revolutionäre ex 1918 zusammen mit Angehörigen der Revolution ihrer Enkelgeneration noch einmal anfangen konnten, als Anarchisten, Nihilisten und radikale Sozia listen Zerstörung und Unheil anzurichten. Und alles, was in dieser Hinsicht geschah, war in Moskau genehm, denn also wurde die Hausordnung einer Welt, die sich noch eine freie Welt nannte, umgestoßen.“

Die deutsche Frage? Drimmel boxt bis auf den Nerv. Warum mußte es zum Hitlerismus kommen? Wie war das, als Hitler zuerst über Österreich, dann über die Tschechen und die Polen herfiel und die Welt, teilweise zähneknir schend, teils anerkennend zusah? Wie wares, als die Sieger die Beute verteilten, anders und doch nicht anders als 1918 jene aus dem Bestand der k. u. k. Monarchie?

„Das Reich der Deutschen ist nicht das erste in Europa gewesen, das man seit dem Altertum zerstört hat.“ Die Türkei, Polen, Italien wurden ähnlich zur Beute von Siegermächten. „Den Deutschen nahm man 1945 die nationale Substanz, also mehr als die Reste des seinerzeit im Westen aufgekommenen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und dessen Auswüchse. Seit 1945 weht ostwärts der Elbe unablässig ein Wind in der sowjetischen Besatzungszone … die Legierung eines verderbten Preußentums mit einem totalitären Marxismus russischer Prägung. Im Westen - nichts dergleichen. Dort ist man froh, Preußen endlich los zu sein und zu beiden Ufern des Rheins einen erfolgsversprechenden

Amerikanismus zu erleben… Vom Reich ist nicht mehr viel die Rede. Zuweilen eine gemütvolle Aufwallung, Nostalgie … Aber in politicis ist derlei so etwas wie eine gefährliche Sprengladung in den Fundamenten jenes Wirtschaftswunders, mit dem die Deutschen in Westdeutschland alsbald den Rest der Welt in basses Erstaunen versetzt haben; so wie sie Ordnung in das Trümmermeer von 1945 brachten.“

„Langsam sinkt der Schleier des Vergessens und Verkennens über derlei Geschichte aus jüngster Vergangenheit; über Geschichte, die nicht Gegenwart sein soll, sondern bewältigt, richtiger: überwältigt werden soll. Ob es diesmal ein heilsames Vergessen sein wird oder eines, das erneut tödliche Gefahren in sich hat… ?“

Ein Werk, das man erst nach der letzten Seite aus der Hand legt. Und bei dem man sich nur wundert, wieso ein so schön hergestelltes Buch so viele Druckfehler enthalten kann. Warum muß etwa Milan Hodža, Ministerprä sident der ČSSR1938, stets als „Hožda“ aufscheinen?

FELIX GAMILLSCHEG GOTT MIT UNS. Das Ende einet Epoche. Von Heinrich Drimmel. Amai thea-Verlag, Wien 1977. 446 Seiten öS 198—.

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