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Ist Claudel noch aufführbar?

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Paul Claudels strenge Forderung an den handelnden Christen, aktiv an der Gestaltung des menschlichen Miteinander zu arbeiten und dafür auch die schwersten, „unmenschlichsten“ Opfer zu bringen, findet ihre dramatische Formulierung in seiner 1909 begonnenen Trilogie, deren erster Teil „Der Bürge“ in Innsbruck inszeniert wurde. Der Dichter stellt zugleich die Frage nach den Möglichkeiten des Christen, als solcher politisch einsichtig zu handeln. Die zeitlose Gültigkeit der Stücke Claudels liegt in der Ver-anschaulichung der Fähigkeiten des Menschen, kraft seiner inneren Haltung die Welt zu verändern. „Der Bürge“ ist in einer historisch bestimmbaren Zeit situiert, im napoleonischen Kaiserreich in den Jahren 1812 bis 1814, doch dient der geschichtliche Hintergrund nur als Grundlage für die Probleme, die fiktiven Personen vom Autor auferlegt werden. Die Anhänger der Bourbo-nen Sygne und Georges de Coüfon-taine verkörpern Treue, Tradition und Adelsethos, Toussaint Turelure den Aufstieg der Ohnmächtigen von gestern, die jetzt Macht und Besitz an sich reißen wollen. Um den entführten Papst vor neuerlicher Gefangennahme durch Napoleon zu retten, sieht sich Sygne nicht nur als Christin, sondern auch als Bewahre-rin der Tradition gezwungen, Ehre, Stolz und Treue zu opfern und Turelure zu heiraten. Doch kann sie dieses Opfer innerlich nicht bejahen, sie leiht sich ihm nur. Die Frage nach den Grenzen der Opferbereitschaft und Opferfähigkeit des Menschen stellt Claudel nicht nur in diesem Drama. Doch die Antwort auf diese Frage scheint er im „Bürgen“ offenzulassen, was gerade diesem Werk besondere Eindringlichkeit “verleiht.

Das problembeladene Stück ist in vieler Hinsicht ein Lesedrama, Probleme werden diskutiert, Handlung kommt kaum auf die Bühne. Die dem Stück gewöhnlich zuerkannte starke Dramatik liegt in den Dialogen; die Sprache ist freilich nicht begrifflich, sondern poetisch übersteigert, vielfach für uns heute zu barock. In der Inszenierung von Oswald Fuchs wurde der Text gekürzt und von rhetorischem Ballast befreit. Kurze Lautsprechertexte in fast Brechtscher Art leiteten die einzelnen Szenen ein. Der Regisseur führte das Fünfpersonenensemble zu einer beachtlichen Gesamtleitung. Die schwierige Rolle der resignierenden Sygne gelang Sonja Höfer überzeugend. Zu einem besonderen Höhepunkt wurde die Szene zwischen ihr und dem Pfarrer Badilon, wobei sie in dem von Oswald Fuchs selbst gespielten, zwischen seelsorgerischer Aufgabe und Dienst an der Kirche gespaltenen Priester einen überzeugenden Partner fand. Einen gequälten, verbitterten und doch engagierten Georges de Coüfontaine verkörpert Frank Michael Weber. — Volker Krystoph machte den zynischen, egoistischen Turelure auch menschlich verständlich, besonders die diffizile Schlußszene in ihrer Vieldeutigkeit wurde durch ihn zu einem erneuten Höhepunkt. Das stilisierte schwarz-weiß-graue Bühnenbild unterstützte die Wirkung der sorgfältigen und eindrucksvollen Inszenierung. So aufgeführt ist Claudel in seiner menschlichen Aussagekraft und Allgemeingültigkeit auch heute noch „aktuell“.

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