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Jahr zehn

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Als Kenia vor zehn Jahren, am 12. Dezember 1963, unabhängig wurde, hörte man düstere Prophezeiungen. Das Wort von einem „zweiten Kongo“, den man in Kenia bald erleben werde, machte die Runde.

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Als Kenia vor zehn Jahren, am 12. Dezember 1963, unabhängig wurde, hörte man düstere Prophezeiungen. Das Wort von einem „zweiten Kongo“, den man in Kenia bald erleben werde, machte die Runde.

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Die Erinnerungen an den Mau-Mau-Aufstand waren noch zu frisch und das Land hatte sieben Jahre im Ausnahmezustand gelebt. Mit unverhülltem Mißtrauen standen einander die verschiedenen rassischen Bevölkerungsgruppen gegenüber: 55.000 Weiße — bis dahin die absoluten Herren im Lande —, etwa 170.000 Asiaten, die den meist handeltreibenden Mittelstand bildeten, und die Masse der rund acht Millionen Schwarzen, die von den Engländern kaum auf die politische Freiheit vorbereitet worden waren.

Kenia hat nicht nur den Ubergang zu einer schwarzen Alleinregierung reibungslos gemeistert, sondern — was angesichts der 1963 gegebenen tiefen Kluft zwischen der weißen Minderheit und den neuen Macht-habern besonders - betont werden muß — auch bewiesen, daß unter schwarzer Herrschaft Rassenintegration tatsächlich funktioniert. Es hat in diesen zehn Jahren seit der Uhuru (Suaheliwort für Freiheit) auch große wirtschaftliche und soziale Leistungen vollbracht.

Eine Schlüsselflgur in diesem Phänomen Kenia ist Präsident Jomo Kenyatta, der zehn Jahre vor dem Abzug der Engländer wegen seiner Rolle im Mau-Mau-Aufstand verhaftet und bis 1961 interniert war. Dieser Mann, den die Welt damals als den militanten schwarzen Nationalisten, als den „brennenden Speer“ kannte, derselbe Mann verblüffte 1963 die Kolonialverwaltung und die weißen Siedler Kenias durch seine Bereitschaft, die Vergangenheit zu ^vergessen und gemeinsam mit den Weißen in Kenia einen neuen Anfang zu machen. Den Weißen fiel es damals schwer zu glauben, daß Kenyattas Ruf „Harambee“ (ein Kikuyuwort für „brüderlichen Aufbruch in die Zukunft“) auch sie mit einschloß.

In den ersten Monaten nach der Unabhängigkeit verließen rund 20.000 weiße Siedler das Land. Bald schon stellte sich jedoch heraus, daß Kenyatta sein „forget and forgive“ ernstgemeint hatte und die Vergangenheit dadurch bewältigte, daß er die großen Probleme, denen dieser junge Staat gegenüberstand, tatkräftig anpackte.

In den Jahren seit der Unabhängigkeit war aus dem „brennenden Speer“ der „Mzee“, der große alte Mann, geworden. Gleichzeitig wandelte sich Kenia vom schwarzen Schaf des britischen Kolonialreiches zum Lieblingssohn Londons im Commonwealth.

Kenyatta hat die Staatszügel stets fest in Händen gehalten, obwohl auch Kenia nicht von den für das junge Schwarzafrika so typischen Krisen und Krankheiten verschont geblieben ist. Es erlebte eine Meuterei der Armee, politischen Mord, persönliche Machtkämpfe, offene gewalttätige Stammeskonflikte und einen Grenzkrieg mit dem nördlichen Nachbarn Somalia. Doch durch die starke Persönlichkeit Kenyattas hat Kenia diese Krisen bisher stets überstanden.

Kenia hat sich auch nicht auf ideologische Experimente eingelassen, wie etwa Präsident Julius Nyerere von Tansania, dessen Uja-maa-Sozialismus sich nun immer deutlicher für die Wirtschaft des südlichen Nachbarlandes Kenia nachteilig auswirkt, und der die dienstbaren Geister aus Maos Reich, die er vor einigen Jahren ins Land gerufen hatte, nun nicht mehr los wird.

Die kenianische Spielart des afrikanischen Sozialismus hat nichts mit Marxismus zu tun. Vernunft und Pragmatismus bestimmen die kenianische Politik. Trotz des Bekenntnisses zur Blockfreiheit hat sich Kenia stets an den Westen angelehnt und ist damit bisher gut gefahren.

Nach Kenia fließen mehr westliche Investitionen als in die meisten anderen Länder Afrikas. Kenia hat äußerst günstige Bedingungen für den Kapitalbringer aus dem Ausland geschaffen. Wie günstig sich diese liberale Investitionspolitik auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes auswirkt, wird jedem erkennbar, der heute in Nairobi ankommt. Diese Stadt, die noch um die Jahrhundertwende nichts anderes als ein Materialdepot für die Erbauer der Ugandabahn war, ist heute eine moderne Großstadt mit eleganten Bürohochhäusern, breiten gepflegten Avenuen, auf denen nach Büroschluß europäische Verkehrsverhältnisse herrschen.

Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Und ebenso schnell wie in der City von Nairobi die Glas- und Betonpaiäste aus dem Boden schießen, wachsen am Rande dieser Stadt die Bretterbuden der Elendsviertel. Nach den erfolgreichen ersten zehn Jahren — auf die Kenia zu Recht mit Stolz zurückblickt — zeigen sich heute allmählich neue Probleme. Beobachtern fällt auf, daß von Jahr zu Jahr das Ausmaß der Korruption wächst, ebenso das steigende gegenseitige Mißtrauen der Stämme, die Vormachtstellung der Kikuyus in den höheren Positionen, der immer krasser werdende Unterschied im Lebensstandard zwischen Land und Stadt.

In diesem Zusammenhang hat eine Studie, die das Internationale Arbeitsamt (ILO) in Genf im Vorjahr veröffentlicht hat, viel Staub aufgewirbelt und große Beachtung gefunden, nicht zuletzt deshalb, weil ihre Ergebnisse auch für viele andere Länder der dritten Welt Gültigkeit haben.

Der Bericht zollt zwar dem beispielhaften Wirtschaftswachstum, das Kenia seit Erlangung der Unabhängigkeit erzielte, Anerkennung — ein Wachstum, das weit über jenem vergleichbarer anderer Staaten liegt —, stellt jedoch anderseits auch fest, daß dieses Wachstum nur einigen wenigen zugute kommt und der Masse der Kenianer keine fühlbare Besserung ihrer Lebensbedingungen gebracht hat, ja daß sogar die Ungleichheiten in der Verteilung des Wohlstandes noch gewachsen sind.

Zu der kleinen, wohlhabenden Elite — kaum mehr als fünf Prozent der Bevölkerung — zählen die 40.000 im Lande ansässigen Europäer, der Großteil der Asiaten sowie diejenigen Schwarzen, die das Erbe der Kolonialverwaltung antraten, afrikanische Geschäftsleute, Akademiker und die Beamten, die in die Fußstapfen der Briten traten.

Diese „Reichen“ haben einen Lebensstandard, der für die Masse der Bevölkerung, die auf dem Lande und in den städtischen Slums lebt, unerreichbar ist

In den Augen der Regierung ist die Existenz einer privilegierten Minderheit gerechtfertigt, weü sie die wirtschaftliche Dynamik des Landes darstellt.

Die Autoren des ILO-Reports sind allerdings anderer Meinung. Sie empfehlen eine Politik, die darauf abzielt, die gegenwärtigen Ungleichheiten abzubauen, ohne jedoch die allgemeine Expansion der Volkswirtschaft zu gefährden. Denn auch sie betonen ausdrücklich, daß Gleichheit kein Ersatz für Wirtschaftswachstum sei.

Anlaß für die von Kenia selbst angeregte ILO-Untersuchung war das Problem der wachsenden Arbeitslosigkeit Im Lichte des großen Stellenmangels, insbesondere für die einheimische schulentlassene Jugend, muß auch die Asiatenpolitik in Kenia beurteilt werden. Obwohl es in Kenia unter Kenyatta zu keinem Massenexodus von Indern kommen dürfte, wird doch ein immer stärkerer Druck auf die Asiaten ausgeübt

Die Afrikanisierung der Wirtschaft wird nicht zuletzt unter einem wachsenden Druck der öffentlichen Meinung forciert. Für die breite Masse ist auch in Kenia General Amin ein Idol, weil er durch die Vertreibung der Inder die Wirtschaft Ugandas angeblich in die Hände der Einheimischen gelegt hat. Deshalb herrscht unter den Ausländern in Kenia, insbesondere den Asiaten, aber auch

Europäern, eine gedrückte Stimmung. Sie geben sich einem pessimistischen Fatalismus hin, wissen sie doch, daß ihre Tage im Lande gezählt sind.

Über all dem steht noch das große Fragezeichen, was nach dem Tod Kenyattas geschehen wird, der heute immerhin schon ein Achtziger ist. Es könnte sein, daß all die derzeit nur unter der Oberfläche gärenden Konflikte dann aufbrechen, daß es zu offenen Unruhen und Rassenverfolgungen kommen könnte.

Allerdings wäll die gegenwärtige Hierarchie, die sich fast ausschließlich aus dem Stamme der Kikuyus rekrutiert, eine reibungslose Nachfolgeregelung. Für sie steht zuviel auf dem Spiel. Für sie ist Stabilität mehr als wünschenswert. Um aber die Stabilität auch in Zukunft erhalten zu können, wird es — im Sinne der Empfehlungen des ILO-Berichtes — notwendig sein, nicht allein dem Wachstum Vorrang zu geben, sondern auch für eine gerechtere Verteilung der Früchte dieses Wachstums Sorge zu tragen. Kenia steht am Beginn einer neuen Entwicklungsdekade, die eine neue, zumindest modifizierte Entwicklungsstrategie erfordert.

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