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Kein rotes Gretchen

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Zu verschiedenen, im Westen bereits publizierten DDR-Anthologien gesellt sich jetzt eine neue, die in 20 Texten Frauenschicksale in der DDR vorstellt (Deutscher Taschenbuchverlag 1174, 263 S., öS 52,40). Der Herausgeber Lutz-W. Wolf} hat darin Erzählungen, Kurzgeschichten, Romanausschnitte und Reportagen gesammelt, die die Entwicklung des Frauenbildes der DDR seit Bestehen des Staates bis in unsere Tage dokumentieren möchten.

Die Texte sind in literarischer Hinsicht unterschiedlichen Niveaus, neben sehr guter Prosa (Anna Seghers, Irmtraut Morgner, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Günter de Bruyn, Erik Neustadt u. a.) gibt es Stücke, die nur vom Inhalt her interessant sind, insofern, als sie etwas über die gesellschaftliche Rolle der Frau in der DDR und ihre privaten Probleme aussagen. Dabei zeichnet sich deutlich ab, daß mit zunehmender faktischer Gleichberechtigung der Frau in der DDR ihr Selbstbewußtsein gewachsen ist und der private Bereich — Liebe, Ehe, Kinder, Sexualität, der Wunsch nach persönlicher Entfaltung und individuellem Glück — ständig an Bedeutung gewinnt.

Ausgesprochene Emanzipationsprobleme spielen keine große Rolle in den Texten. Zweimal werden sie in einer absurden Variante abgehandelt: von Günter de Bruyn in der Erzählung „Geschlechtertausch“ und in Christa Wolfs „Selbstversuch“. Beide Male geht es um die Verwandlung einer Frau in einen Mann; bei de Bruyn kommt noch das umgekehrte Experiment dazu. Bei dem Versuch wird die Diskriminierung der Frau in der Gesellschaft transparent. Das von ihr immer noch geforderte, einengende Rollenverhalten wird kritisiert. Übrigens kommen die Frauen bei dem utopischen Versuch sehr viel besser weg als der Herr der Schöpfung, der nach seiner Rück-verwandlung recht hilflos vor seiner alten Existenz steht. Christa Wolfs Heldin dagegen, gereift durch ihre Erfahrungen als Mann, zieht die Quintessenz: „Es bleibt uns nichts übrig, als mit j#m quälendste^ aQer Gefühle, von vorn zu beginnen.., Jetzt steht uns mein Experiment bevor: Der Versuch zu lieben.. .*'

In Anna Seghers schöner Geschichte „Das Schilfrohr“ bildet das Nebeneinander von privaten und politischen Erfahrungen eine Einheit. Wie so oft in ihren Romanen und Erzählungen stellt sie „die Kraft der Schwachen“ als Möglichkeit innerer Wandlungen heraus. Ähnliches gilt für Margarete Neumanns „Lene Bastians Geschichte“ und Sarah Kirschs Erzählung „Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See“.

Die beiden in dem Band veröffentlichten Texte von Sarah Kirsch waren bisher im Westen nicht zugänglich. Diese Autorin wird auch hierzulande Anklang finden, denn sie verfügt über Humor und eine üppig wuchernde Phantasie — ziemlich seltene Tätigkeiten in der DDR-Prosa. Auch Irmtraut Morgner verfügt über sie, deren Romane zum Teil von westdeutschen Verlagen publiziert wurden und viel Beachtung fanden.

Zusammenfassend läßt sich über die Anthologie sagen, daß die Frauen der DDR, die Gleichberechtigung betreffend, immerhin ein bißchen weiter zu sein scheinen als wir im Westen. Lutz v. Wolff spricht in seinem Nachwort von der konsequenten Förderung der DDR-Frau im öffentlichen und politischen Bereich, in der Arbeitswelt und im Privatleben. Die persönliche Selbstverwirklichung als Frau und Mensch wird gesucht, in vielen hier geschilderten Fällen aber bisher nur unvollkommen erreicht.

Ausdrücklich erwähnt sei noch das ausführliche Autorenverzeichnis des dtv-Bandes mit Angaben über das Leben und die bisher veröffentlichten Werke der Schriftsteller. Da die Literatur der DDR, von Ausnahmen abgesehen, bei uns immer noch wenig bekannt ist: willkommene Informationen für den interessierten Leser.

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