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Komponisten, Kritiker, Publikum

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Wer ist ein Kritiker? Wie wird man Musikkritiker? Diese Fragen stellte beim Komponisten-Symposion der „Woche der Begegnung 74“ der bekannte Pariser Kritiker Antoine Golea. Er beantwortete sie mit Anekdoten, die offenkundig werden ließen, daß es ihm nicht um eine unerreichbare Objektivität zu tun war, sondern darum, der Aliierte des Komponisten zu werden. Als Beispiele führte er am, daß Pierre Boulez auf Grund seiner kritischen Einwände, seine „Polyphonie X“ zurückgezogen habe und sich seither, wie böse Zungen behaupten, in einer Dauerkrise befinde. Gilbert Amy, der Musikchef des ORTF, habe jedenfalls größte Mühe, ein wirklich repräsentatives Konzert mit Werken von Boulez, die mittlerweile nicht der Selbstzensur unterwarfen wurden, aus Anlaß des 50. Geburtstages des Komponisten zusammenzustellen. — Als positives Beispiel konnte Golea anführen, daß es ihm gelungen sei, Yannis Xe-nakis aus seinem „Computer-Labyrinth“ herauszulocken. Das Resultat sei ein vorzügliches, vor kurzem-ur-aufgeführtes Klavierkonzert. Auch Selbstkritik der Kritik, wie sie in diesen Tagen in Klagenfurt vielfach gefordert wurde, übte Golea, als er sein Urteil über Strawinskys Spätwerk in seinem brillanten und weitverbreiteten Buch „Musik unserer Zeit“ öffentlich revidierte.

Golea zeichnete dabei mit knappen Strichen sein Kritiker-Leben nach und stieß letztlich doch auf den Widerspruch eines so. bedeutenden Komponisten wie des derzeit in Stuttgart lehrenden Milko Kelemen, der meinte, die Kluft sei derzeit unüberbrückbar, das Mißtrauen der Komponisten gegenüber einer Kritik, die es immer mehr verabsäumt, den Klatsch säuberlich von der eigentlichen Kritik zu trennen, sei gewachsen. Nun gab es zwar auch die sehr erns'tzunehmenden Diskussionsbeiträge des Grazer Wertungsforschers Otto Koüeritsch und des Komponisten Gösto Neuwirth, die meinten, daß sich die simple Gefallenästhetik des Vormärz überlebt habe. (Es gilt nunmehr, eine Position in der Wertwelt zu beziehen und kritisch den Wahrheitsgehalt eines Werkes zu entfalten. — „Musik ist auch begrifflich nachzuerleben, und ein Verzicht auf Kritik und Theorie kommt nicht in Frage.“) So recht als „Zentralsonne der Intelligenz“ (Doderer) konnte der Kritiker dennoch nicht ausgemacht werden. Dafür kamen Fragen zutage, die einmal kraß als Aufforderung zur „freiwilligen Selbstkontrolle“ artikuliert, zum anderen aber in Anlehnung an ein in diesem Blatt immer wieder zitiertes Wort von Rudolf Bayr den Charakter des Kritikers und das Vertrauen, welches das Publikum seiner Bildung zu schenken habe, betrafen. „Sensibilität und Charakter“, Helmut Fiecht-ner nahm in seinem Referat dieses Wort von Strawinsky auf, in einem Referat, in dem er die historischen Leitlinien der Wiener Musikkritik von Eduard Hanslick bis zur Gegenwart nachzeichnete. Er sprach dabei auch von der Eigenart des Wiener Publikums, das zwar eine genaue Kenntnis der Musik von Haydn bis Debussy besitzt und ihre Interpretation feinfühlig zu beurteilen vermag, den Werken des Barock wie der Zeitgenossen jedoch merkwürdig reserviert gegenübersteht.

Zur „Kritik der Kritik“, die niemals Wehrlose trifft, ist anzumerken daß der Trend zur Überbewertung des Interpretatorischen und zur Aufarbeitung des Kulissentratsches angeblich in journalistischen Erforde-

nissen begündet ist, die etwas mit der Behauptung der Zeitung auf dem jeweiligen Markt zu tun haben und außerhalb der Kompetenz des einzelnen liegen, der freilich für das, was er schreibt, voll verantwortlich bleibt. Dazu gehört auch die Wiener Spezialität, sich primär mit der Repertoire- und Besetzungspolitik der Veranstalter — des Operndirektors und des Konzertmanagers — zu beschäftigen, statt mit den Werken und ihrer Wiedergabe. In erster Linie bleibt es freilich dem Leser vorbehalten, immer wieder an den Charakter des Kritikers zu erinnern, seiner Bildung und Sensibilität Vertrauen zu schenken und bei alldem seine Wahl zu treffen.

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