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Kritische Gedanken zum Jahr des Kindes

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Die Erziehungsaufgabe jeder Gesellschaft ist es, zuerst zu entscheiden, welchem Menschenbild die zukünftigen Erwachsenen entsprechen sollen, um am besten den Bedürfnissen der zukünftigen Entwicklungen angepaßt zu sein. Danach muß entschieden werden, wie man Menschen zu den gewünschten Persönlichkeiten erziehen .kann. Sofeme ein solches Ziel gesteckt ist, kann gefragt werden, ob es uns gelungen ist, das Ideal annähernd oder ganz zu erreichen.

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Die Erziehungsaufgabe jeder Gesellschaft ist es, zuerst zu entscheiden, welchem Menschenbild die zukünftigen Erwachsenen entsprechen sollen, um am besten den Bedürfnissen der zukünftigen Entwicklungen angepaßt zu sein. Danach muß entschieden werden, wie man Menschen zu den gewünschten Persönlichkeiten erziehen .kann. Sofeme ein solches Ziel gesteckt ist, kann gefragt werden, ob es uns gelungen ist, das Ideal annähernd oder ganz zu erreichen.

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Ich möchte die Behauptung aufstellen, daß zwei gefährliche Entwicklungen zu einer Überforderung und Überlastung der Kinder und auch der Jugendlichen bis zum Alter von Universitätsstudenten in unserem Land führen. Die erste Komponente dieser Entwicklung besteht darin, daß wir uns nicht mehr eine klare Vorstellung jenes Menschenbildes zu erarbeiten suchen, das uns für die Zukunft unserer Kinder erstrebenswert erscheint.

Das verzerrte Menschenbild, das uns in etwas nebulöser Form vorschwebt, ist jenes, das sich aus unserer spätindustriellen Konsumgesellschaft entwickelt und das unseren eigenen Wünschen nach Wohlstand und Gesundheit entspringt. Dieses Menschenbild paßt zu der Definition der Gesundheit der WHO, die „nicht nur das Freisein von Krankheit, sondern das völlige Fehlen von körperlichem, seelischem und sozialem Unbehagen“ anstrebt. Dieser Prozeß ist in gleicher Weise in Volksschule und Universität erkennbar. Das Problem besteht demnach letztlich darin, daß wir uns nicįit im klaren darüber sind, was wir eigentlich wollen. Die Frustration wird dadurch verstärkt, daß das Ziel unserer Planungen unscharf definiert ist

Es genügt jedoch nicht unsere Probleme nur mit einer Vermehrung des Lernstoffes und einer entsprechenden Anpassung des Unterrichts anzugehen. Alle diese Reformen müssen versagen, solange wir uns nicht darüber im klaren sind, daß wesentliche menschliche Faktoren, d. h. die Einstellung zum Kind korrigiert werden müssen und daß eine klare Vorstellung des oben erwähnten

Menschenbildes erarbeitet werden muß.

Die verzerrte Einstellung zum Kind wird hier so selbstverständlich als gerechtfertigt angenommen, daß selbst die Betroffenen sich nicht mehr darüber wundem. Sie reagieren lediglich abnorm oder sogar falsch und begeben sich dadurch unter Umständen in große Gefahr. Dieser Vorgang kann in allen Lebensbereichen beobachtet werden, wofür ich im folgenden ein charakteristisches Beispiel geben möchte.

An einem Nachmittag im vergangenen Sommer dieses Jahres wurde der 11jährige Sohn unserer Nachbarn beim Spiel im Bereich der Mistkübel der Wohnanlage schwer verletzt. Die Gründe für diesen Unfall sind folgendermaßen zu analysieren. Kinder der Wohnanlage spielen täglich im Bereich der Fahrstraße oder der Mistkübel, weil ihnen das Spielen in der vorhandenen Wiese verwehrt wird.

Das Spielen in dieser Wiese wird verwehrt, weil Erwachsene sich durch den Lärm beim Fernsehen gestört fühlen (besonders lieben sie es übrigens, im Fernsehen Erwachsene zu betrachten, die auf einer Wiese Fußball spielen). Das Fußballspiel ist laut Hausordnung auf der Wiese der Wohnanlage verboten.

Unsere Ururvorfahren mußten im Tag auf der Suche nach Nahrung jeden Tag 10 bis 20 km laufen. Dieser Bewegungsdrang, durch die Entwicklung angeboren, ist uns erhalten geblieben. Die Perversität der Gesellschaft anerkennt die Betätigung dieses Bedürfnisses nur dort, wo sie in irgendeiner Weise mit einem Nutzen, einem Profit in Zusammenhang gebracht werden kann. Gegebenenfalls wird eine Betätigung im Bereich der Mistkübel anerkannt, sofeme sie das Zuschauen beim Fußball im Fernsehen nicht stört

Im Bereich der Forschung spiegelt sich die geschilderte gefährliche Einstellung darin, daß derzeit zweifellos größtes Gewicht auf die Verbesserung der Abschaffung des Kindes auf verschiedenste, zum Teil brutale Weise gelegt wird. Zur Selbstrechtfertigung ist ein gewisses Gewicht auch auf die Lebenderhaltung von Krüppeln gelegt.

Kaum ein Mensch kümmert sich um die alltäglichen Probleme: Das Problem der physiologischen, das heißt, optimalen Wohnmöglichkeit; das Problem der physiologischen, das heißt, optimalen Erziehung durch die Familie.

'Es sieht fast so aus, als würde mit humanitären Begründungen gerade immer das Gegenteil von dem gerechtfertigt, was durch Kasuistik und Experiment als notwendig und richtig belegt ist. Es ist vielfach belegt, daß Kinder ihrer Mutter essentiell bedürfen. Und trotzdem wird die Berufstätigkeit der Mutter gefordert.

Niemand kann bezweifeln, daß heute eine Informationsüberlastung unser aller und der Kinder insbesondere besteht. Und trotzdem gebietet niemand dieser Überflutung mit Information Einhalt. Ja es sieht so aus, als würde auch der Absatz immer detaillierterer Schulbücher immer bessere Gewinne abwerfen.

Jedermann weiß, daß Darstellung von Brutalität wiederum Brutalität erzeugt, trotzdem wird dem größeren Nutzen der Medien jedes Prinzip geopfert. Jedermann weiß, daß die Erziehung zu blindem Gehorsam die Katastrophe dieses Jahrhunderts mit bedingt hat. Und trotzdem wird dieses Erziehungsideal immer noch als höchst erstrebenswert angesehen.

Jedermann weiß, daß nur die Familie die Grundlage der Erziehung liefern kann. Und trotzdem wird alles unternommen, um die Zerstörung der Familie zu erleichtern.

Für den objektiven Wissenschafter besteht zwischen dem Unfall eines Kindes im Bereich der Mistkübel einer Wohnanlage und dem Verbot des Spielens in der Wiese dieser Anlage kein statistisch signifikanter Zusammenhang. Daher ist dieser Unfall eines Kindes statistisch betrachtet ein Zufallsgeschehen. Damit ist wissenschaftlich bewiesen, was wissenschaftlich gefragt war. Und die fortschrittliche Gesellschaft glaubt nur, was wissenschaftlich ausgedrückt wird.

Ob Kinder heute überlastet sind? Meines Erachtens läßt sich dieses Problem in einem Satz dadurch beschreiben, daß von unseren Kindern etwas erwartet Wird, was wir im allgemeinen selbst nicht genau wissen. Wir wissen nur, daß es etwas besonderes sein soll, an dessen Verbesserung wir dauernd arbeiten.

Zur Selbstrechtfertigung ergreifen wir Maßnahmen zur Reform des Unterrichts und diverser Details. Das Ergebnis ist Frustration, die sich auf der einen Seite in Unbehagen und auf der anderen Seite in einer Neigung zur Aggressivität und Kinderfeindlichkeit ausdrückt.

Ich bin durchaus der Meinung, daß das Jahr des Kindes ein positives Ereignis sein könnte. Unter den gegebenen Umständen und falls sich nichts ändert, kann man es jedoch wohl nur als Augenauswischerei bezeichnen

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