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Lebenslang ohne Urlaub

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Wie Zwangsarbeiter kommt sich ein erheblicher Teil der Wirtschaftstreibenden in Österreich vor: 53 Prozent von ihnen können sich niemals einen Urlaub leisten. Mit dieser für den angeblich vorbildlichen Sozialstaat Österreich erschütternden Tatsache konfrontierte die Wirtschaftsbund-Zeitung „Wir Selbständigen“ dieser Tage in Oberösterreich die Öffentlichkeit.

Es ist aber nicht nur der hohe Prozentsatz der selbständigen Nichtur-lauber, sondern auch das ganze Drumherum des Berichtes, was als soziale Gruselgeschichte eine politische Schockwirkung erzeugen dürfte. Schlagartig wird damit nämlich zu Beginn einer permanenten Wahlkampfzeit — bis zur Nationalratswahl 1975 werden bekanntlich noch die Landtage in acht Bundesländern zu wählen sein und zahlreiche Kommunalwahlen abrollen — der Forderungsblock einer nach wie vor stimmenstarken Bevölkerungsgruppe in die Waagschale geworfen.

Daß die Staatswohlfahrt für die

Selbständigen noch nie viel übrig gehabt hat — außer ein paar sozialpolitischen Zuckerln —, hat bis dato kaum jemanden gerührt. So rühren sich die — nach einer Selbsteinschätzung — sozial Unterprivilegierten wie eben jetzt in Oberösterreich mit Postwurfsendungen selbst; und legen zugleich massive Forderungen auf die Entscheidungstische der Politiker aller Couleurs.

Die Urlaubsmisere, so der oberösterreichische Wirtschaftsbund, beginnt beim Geld. Man gönnt den Mitbürgern, daß sie beispielsweise als Angestellte im Urlaub ihr Gehalt weiterbeziehen und dazu jährlich noch ein dreizehntes und vierzehntes Monatsgehalt bekommen. Nicht mehr hinnehmen will man aber, daß ein Urlaub für den Unternehmer neben den zusätzlichen Ausgaben auch noch einen Einkommensverlust nach sich zieht. „Für längere Zeit zusperren und dazu noch Geld für die Ferien auszugeben, können sich heute die meisten Selbständigen nicht leisten“, heißt es wörtlich. Helfen soll hier in erster Linie eine steuerliche Erleichterung. Es wird verlangt, daß den Gewerbetreibenden beispielsweise zwei Vierzehntel des Jahreseinkommens nach festen

Steuersätzen behandelt werden sollen — entsprechend dem dreizehnten und vierzehnten Monatsbezug der Unselbständigen.

Wenngleich die sozialpolitischen Verbesserungen offensichtlich untrennbar mit steuerlichen Auswirkungen verbunden sein müssen, bleibt das soziale Auslösemotiv für diese Bestrebungen unberührt aufrecht: „Chancengleichheit bei Erholung und Gesundheit“, verlangt der Wirtschaftsbund, der zur Bekräftigung seiner Aussagen weiteres Datenmaterial aus einer Untersuchung veröffentlichte, von der allerdings nicht bekannt ist, wer sie durchgeführt hat.

Demnach sind 65 Prozent der Wirtschaftstreibenden in Oberösterreich gesundheitlich gefährdet; Ursachen seien Hetzjagd und Überlastung im Betrieb. Das erscheint verständlich, wenn man damit ein anderes Untersuchungsergebnis in Zusammenhang bringt: Demnach müssen 86 Prozent der Selbständigen täglich mehr als zehn Stunden arbeiten; 60 Prozent spüren sogar von der Feiertagsruhe nichts; 53 Prozent schaffen ihre Arbeit nicht mehr so wie früher, weil sie von ihrem schlechten Gesundheitszustand behindert werden. Und vielen graut vor einer Erkrankung: 30 Prozent müssen ihr Geschäft zusperren, wenn sie krank werden. „Kein Wunder“, resümiert die Wirtschaftsbund-Zeitung, „wenn 70 Prozent Angst vor der Zukunft haben, die Chancen des eigenen Betriebes ungünstig beurteilen und 30 Prozent der kleinen Gewerbetreibenden ernstlich ans Aufgeben denken.“

Jedenfalls signalisiert die Untersuchung aus Oberösterreich, daß die Selbständigen längst nicht mehr auf dem Podest stehen, auf das sie durch einen jahrzehntelang sorgsam gepflegten Neidkomplex als „Reiche“ hinaufgehoben wurden. Es sind auch nicht mehr die alten Klagelieder, die jetzt angestimmt werden, bei denen man sich in früherer Zeit des Eindruckes nicht erwehren konnte, daß sie insgeheim unter dem Motto „Lerne zu klagen, ohne zu leiden“ standen. Die Situation ist heute wesentlich ernster. Das wissen nicht' nur die Interessenverbände. Fast scheint es aber, daß man sich immer noch nicht traut, den Selbständigen zu helfen. Noch vor wenigen Jahren galt als Grund, daß dies „politisch nicht vertretbar“ sei.

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