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Legende zu Lebzeit

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In seinem Namen verbinden sich Qual und Gewalt. Er ist weniger ein Original als ein Originalgenie, zusammengefügt aus vielen scheinbar widersprüchlichen Elementen: Landsknecht und Bußprediger, Dichter und Journalist, Eulenspiegel und Bramarbas, enfant terrible und Literat, Karl Kraus und Egon Frieden, Alexander Girardi und Charles Laughton, er kann die Gralserzählung untransponiert singen und hätte fürs Leben gern den Richard III. gespielt, er pflegt telefonisch seine Freunde und seine Gegner meisterlich zu mystifizieren. Er hat als Volksschauspielerin Annie Rosar mit dem Wiener Fernsehdirektor ein langes Gespräch geführt und mit mir als Werner Krauß. Er ist, meines Wissens, der einzige, der Dialekte und Akzente in horizontaler und vertikaler Unterschiedlichkeit produzieren kann - rein akustisch entwirft er dek-kende Porträts, die weit über das Pa-rodistische hinausgehen. Er ist daher der ideale Ein-Mann-Interpret für die „Letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus.

Er ist überaus vieles in größeren oder kleineren Portionen. Er ist nur eines ganz und gar: ein Kabarettist, der größte deutscher Sprache in diesem Jahrhundert (vorher gab es keine). Und gerade das wollte er nicht bleiben. Er huldigte einer Tendenz dieser Jahrhundertmitte, der Flucht vor der Erfüllung. Friedrich Gulda, der hervorragende klassische Pianist, wollte eines Tages, nicht mehr klassische Musik spielen - Herbert von Karajan, der hervorragende Dirigent, begann eines Tages Regie zu führen - Ingeborg Bachmarin, die hervorragende Lyrikerin, wollte eines Tages keine Gedichte mehr schreiben - und Helmut Qualtinger stieg aus einer glanzvollen Karriere aus und will nicht mehr Kabarettist sein. Er schreibt, er liest vor, er spielt Theater, er ist in zahlreichen Fern-seh-Zusammenhängen aktiv, er bespricht und besingt Schallplatten, ein erbitterter Gegner und wichtiger Faktor des Show-Business, er ist und bleibt eine Institution, eine Legende zu Lebzeiten.

Dieser scheinbaren Äußerlichkeit ist die beklagenswerte Tatsache zuzuschreiben, daß er keine größeren Prosa-Arbeiten produziert und daß er

seine kleineren Arbeiten so oft in Kompanie verfaßt hat. Auch liegt ihm das frei phantasierende Improvisieren mehr als die fixierte Form. Man muß ihn zu später Stunde in freundlich-fröhlicher Runde erlebt haben, komödiantisch einfallsreich Figuren in den Raum stellend vom Dorftrottel bis zum Ministerialrat, vom Hofschauspieler zum Protestsänger. Er ist alles das, was Peter Ustinow sein möchte.

Wenn Franz Schubert im Freundeskreis aus der Fülle seiner Substanz improvisatorisch zum Tanz aufspielte, hat er das, was ihm zugeflogen war, solange wiederholt, bis es sich ihm einprägte und er's dann später aufschreiben konnte. Wenn Helmut Qualtinger ... nein, nicht aufspielt oder vorspielt, wenn er nicht andere, sondern vor allem sich unterhält, indem er porträtie-rend-imitierend ad absurdum führt, gehört es nur der unwiederholbaren Gegenwart - und wäre eine Kamera mit Mikrophon dabei, gelänge es nicht so grandios.

Vermutlich aber ist es nicht nur die Sitz-Phobie - wahrscheinlich hätte er auch, wäre er der Schreibtischarbeit mächtig, keine größeren Prosa-Arbeiten hervorgebracht.

Immerhin aber gibt es zwei neuere Bände, von Qualtinger allein, „Das Mörder und andere -Leut“ und „Das letzte Lokal“, und da ist es ihm, will mir scheinen, gelungen, seine frei schweifende Phantasie sozusagen mitzustenpgraphieren, Material für Qualtinger-Darbietungen zu fixieren, kurze Szenen, Stimmungsbilder-Dia-loge-Dramoletterln, äußerlich

schlank, doch sehr gewichtig, Übersetzungen von „La condition humai-ne“ ins Wienerische.

Am 8. Oktober vollenden viele bedeutende Zeitgenossen ihr fünftes Lebensjahrzehnt: ein Schriftsteller-Dichter, literarisch abstammend von Nestroy, Tschechow, Karl Kraus, Horväth, Beckett, ein unvergessener Kabarettist, ein Entertainer, ein Protestsänger, ein Volksschauspieler, ein Komiker, ein seriöser Darsteller. Man muß jedem von ihnen zu den anderen allen gratulieren, und ebenso intensiv muß man uns. anderen allen zu sämtlichen Helmut Qualtingers gratulieren.

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