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Literatur in Aufbruch

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Es wirkt, wie der Verfasser einleitend bemerkt, fast wie Ironie, daß die Epoche in etwa mit der Regierungszeit Wilhelms II. übereinstimmt, „denn die literarische Blüte dieser Zeit fand ohne ihren politischen Repräsentanten statt, der sie nicht einmal sah. Der literarische Glanz überstrahlte das politische Elend“.

Die Begrenzung auf die Entwicklung vom Jugendstil zum Expressionismus und die Teüung des Stoffs nach Lyrik, Prosa, Drama bringen es mit sich, daß kaum ein Autor eine geschlossene Darstellung findet. Mag man dies auch bedauerlich finden - es läßt sich von der Anlage des Werks nicht umgehen. Der rote Faden, an dem der Verfasser seine Darstellung aufhängt, ist die Anti-bürgerlichkeit als das die Literatur beherrschende Thema, gepredigt und gestaltet von Schriftstellern, die dem Bürgertum entstammen und sich an das Bürgertum als Leserschicht wenden. Der Stoff, den es darzustellen gilt, ist gewiß immens, das zwingt trotz eines Umfangs von tausend Seiten zur Kürze, hätte aber nicht zu allzusehr vereinfachenden Formulierungen führen sollen, denen man des öfteren begegnet, etwa wenn einigen Zeüen über den Lyriker Oskar Loerke der Satz folgt: „Seit 1907 schrieb er Romane über sonderbare Menschen, etwa im Stil des frühen Hesse oder Emil Strauß“ - oder wenn sich an zwanzig Zeilen literarischer Cha-

rakteristik Peter Altenbergs als einzige biographische Angabe der Satz anschließt: „Altenberg starb an den Folgen seines Alkoholismus.“

Der österreichischen Literatur gehört mehrere Male ein eigenes Kapitel. Im Rahmen des literarischen Jugendstils in Wien würdigt der Verfasser im Anschluß an ein Hofmannsthal-Kapitel Altenberg, Bahr, Schaukai, Andrian, Schnitzler, Beer-Hofmann, Saiten, Auernheimer, Karl Kraus, Musil und Stefan Zweig, um daran das Fazit zu knüpfen: „Bewundernswert bleibt die Qualität der Literatur, die diese Wiener Kulturbürger-Gesellschaft hervorbrachte, ein Reichtum, der mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs nicht aufhörte.“

Überhaupt zeigt sich bei diesem Werk wieder einmal, daß es deutschen Germanisten schwerzufallen scheint, Verständnis für das Spezifische der österreichischen Literatur aufzubringen, in Leh-nerts Darstellung etwa bei Altenberg oder Schaukai und gravierend bei Karl Kraus. Und bei der Weltkriegslyrik sucht man vergebens den Namen von Alfons Pet-zold, während in dem entsprechenden Kapitel über die Kriegsreaktionen deutscher Autoren die beiden Arbeiterdichter Heinrich Lersch und Karl Bröger erwähnt sind - ohne literarische Wertung, unter Hinweis auf ihre spätere Verflechtung mit der NS-Ära. Schwer verständlich auch, daß Namen wie Felix Braun und Franz Theodor Csokor fehlen.

Zum Trend der Zeit gehört eine Soziologisierung der Literatur. Daß Lehnert sie zu meiden sucht und wirklich Literaturgeschichte bieten möchte, stellt man mit Freude fest. Mag seiner Darstellung auch jenes fast künstlerisch anmutende Fluidum fehlen, das in den zwanziger Jahren von Soergels zweibändiger Geschichte der deutschen Literatur vom Naturalismus bis zum Expressionismus ausging: Der Leser außerhalb des Universitätsbetriebs muß ihm dankbar sein, daß er ihm unter Vermeidung aller Fachtermini der Germanisten klar und allgemeinverständlich Literaturgeschichte nahebringt.

DIE GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR VOM JUGENDSTIL ZUM EXPRESSIONISMUS. Von Herbert Lehnert. Reclam-V erlag; Stuttgart 1978, öS 221-

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