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Stürmische Jugend

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Zeitschriften waren von jeher die Ausgangsbasis, das Organ, die Heimat der Avantgarde. Besonders trifft dies für die ersten Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende zu, als sich Dichter und Schriftsteller, Musiker, Bildhauer, zuweilen auch junge Politiker vereinigten, um gegen alles Traditionelle — heute würden wir sagen „Etablierte“ — zu protestieren und ihre eigenen Ideen kundzutun. Das gilt ganz speziell für den Expressionismus, und da dieser zwischen 1933 und 1945 als „entartet“ deklariert wurde, ist von diesen Dokumenten vieles, ja das meiste verlorengegangen.

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Zeitschriften waren von jeher die Ausgangsbasis, das Organ, die Heimat der Avantgarde. Besonders trifft dies für die ersten Jahrzehnte nach der Jahrhundertwende zu, als sich Dichter und Schriftsteller, Musiker, Bildhauer, zuweilen auch junge Politiker vereinigten, um gegen alles Traditionelle — heute würden wir sagen „Etablierte“ — zu protestieren und ihre eigenen Ideen kundzutun. Das gilt ganz speziell für den Expressionismus, und da dieser zwischen 1933 und 1945 als „entartet“ deklariert wurde, ist von diesen Dokumenten vieles, ja das meiste verlorengegangen.

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Immerhin: da und dort haben sich einzelne Hefte, einzelne Jahrgänge auftreiben lassen, und da die meisten dieser Zeitschrift recht kurzlebig waren, war es möglich, diese einzigartigen Quellen zur Kunst- und Geistesgeschichte jener Zeit durch „Reprints“ einem interessierten Publikum zugänglich zu machen. Und zwar, dank der photomechanischen Wiedergabe, in ihrer Originalgestalt. In Deutschland hießen diese Zeitschriften „Die Argonauten“, „Die Gefährten“, „März“, „Das Tribunal“, „Der Mensch“, „Revolution“ usw.

Auch in Österreich gab es eine solche Publikation mit dem zeitgemäßen und charakteristischen Titel „Der Ruf — Ein Flugblatt an junge Menschen“. Sie erschien in den Jahren 1912 bis 1913jund brachte es auf insgesamt fünf Nummern, die aber ihrem Umfang und Gehalt nach bedeutend genug sind, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Als Herausgeber ist der Akademische Verband für Literatur und Musik genannt, die Redaktion der einzelnen Nummern besorgten Dr. Paul Stefan, Ludwig Ullmann und Erhard Buschbeck. Gleich in den ersten Heften gab es

Gedichte von Erich Mühsam, Christian Morgenstern, Theodor Däubler, Georg Trakl, Franz Werfel, Ehrenstein, Frank Wedekind, Else Lasker-Schüler, Felix Braun, Franz Theodor Csokor — und sogar eines von Hugo Wolf. Die umfangreiche Opemparodie von Hermann Bahr mit dem Titel „Eipeldauer Elektra“ wäre eines Robert Neumann würdig. Überhaupt ist das Genre der Travestie, des fingierten Berichts, der historischen Einkleidung sehr beliebt — im Unterschied zu fast allen in Deutschland erscheinenden Zeitschriften dieser Art, wo man direkter und apodiktischer war.

— Da gibt es zum Beispiel ironische

Ratschläge von Stefan Zweig mit dem Titel „Die zehn Wege zum deutschen Ruhm“, den „Geheimbericht eine chinesischen Revolutionärs über seine Reise nach Österreich“, eine Abhandlung von Bernard Shaw: „Sind Ärzte Männer der Wissenschaft“, die groteske Schilderung von Adolf Loos über sein Auftreten mit der Melba und anderes in dieser Art.

Was für eine stürmische Jugend wir da vor uns haben, bezeugt das 3. Heft mit dem Titel „Krieg“, erschienen im Herbst 1912, in dem Töne angeschlagen werden, wie man sie eigentlich erst nach dem Ausbruch des ersten (und wieder auch zu Beginn des zweiten) Weltkrieges gehört hat. Frieden und Kultur vertrügen sich nicht, „Die Kunst ist das Resultat des Kampfes aller gegen alle“

— und was dergleichen jugendliche Phrasen mehr sind. Doch dies ist nur ein Teilaspekt der jungen österreichischen Expressionistengeneration. Erstaunlich, mit welchem Spürsinn sich ihnen die Maler Kokoschka, Klimt und Moritz Jung anschlossen, von denen in jedem Heft eine oder mehrere Graphiken reproduziert sind. Und Anton von Webems Miniaturstücke eignen sich ja besonders für ein solches Unternehmen, da sie oft nicht mehr als eine Druckseite beanspruchen…

Interessant ist auch der Anzeigenteil dieser Zeitschrift: da wird ein Peter-Altenberg-Abend angekündigt, zur Uraufführung von Wedekinds „Schloß Wetterstein“ lädt der „Akademische Verband für Literatur und Musik“, es gibt Musikabende bei Schönberg, der auch mit Aphorismen vertreten ist — und da klingt das ewige Wiener Motiv an, immer wieder, am eindringlichsten (in der letzten Nummer) in einer umfangreichen Rezension des Buches von Paul Stefan „Das Grab in Wien“, eine Chronik der Jahre 1903 bis 1911 (übrigens das Todesjahr Mahlers): „Das Grab in Wien. Das ist die Wiener Einsamkeit, die Herbstluft, die rauhe Luft von Spott, Wortwitz und tödlicher Lässigkeit, die Scham vor den Empfindungen, die Kunst des Es-sich-richten-Könnens“, die Wurstigkeit und die Verzweiflung an sich selbst — jene Athmosphäre, die das Leben von Schönberg, Mahler, Klimt und Kokoschka ebenso vergiftet hat wie das eines Adolf Loos oder Anton Bruckner…

DER RUF. Ein Flugblatt an junge Menschen. Heft 1—5, Wien 1912113. Kraus-Reprint, Nendeln, Liechtenstein. (Ohne Seitenangabe.) Preis 16 Dollar.

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