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Lütgendorfs „Käse“

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Die Frage nach dem sogenannten Wehrkonzept hat selbst die Diskussionen um das Demokratiebewußtsein des Verteidigungsministers zurückgedrängt. Das Fehlen des politischen Teils des Wehrkonzepts, einer „Wehrdoktrin“, wurde dem Bundeskanzler in der TV-Journalistenrunde vorgeworfen. Den Versuch Lütgendorfs, die Diskussion um diesen Fragenkreis in der Öffentlichkeit durch den Vorschlag in Gang zu bringen, Wien und Salzburg zu „offenen Städten“ zu erklären, kanzelte selbst Kreisky als voreilig und übereilt ab.

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Die Frage nach dem sogenannten Wehrkonzept hat selbst die Diskussionen um das Demokratiebewußtsein des Verteidigungsministers zurückgedrängt. Das Fehlen des politischen Teils des Wehrkonzepts, einer „Wehrdoktrin“, wurde dem Bundeskanzler in der TV-Journalistenrunde vorgeworfen. Den Versuch Lütgendorfs, die Diskussion um diesen Fragenkreis in der Öffentlichkeit durch den Vorschlag in Gang zu bringen, Wien und Salzburg zu „offenen Städten“ zu erklären, kanzelte selbst Kreisky als voreilig und übereilt ab.

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Österreichs militärische Abwehrkraft und die Einsatzbereitschaft seines Heeres muß spätestens mit heutigem Tag als „löchrig“ bezeichnet werden. Nach dem Abrüsten der letzten Neunmonatediener bieten 12.000 Mann Kaderpersonal, das größtenteils ministerielle Fichtenholzschreibtische hütet und 13.000 nicht einsatzfähige, da noch nicht voll ausgebildete Jungmänner, kaum mehr als den Schatten eines militärischen Abwehrinstruments. Lütgendorf gibt zu, vorerst die Löcher nicht stopfen zu können. Dafür bietet er neue Hohlräume in Form seiner „Emmentaler-Doktrin“ an.

Die Schweiz war stets in vielen Fragen unser Vorbild. Sicherlich bei der Armee und beim Käse. Daher war die Hoffnung nicht ganz unbegründet, aus beiden eidgenössischen Gütezeichen einen leicht faßbaren Begriff zu schaffen.

Daß wir selbst nach einer Mobilmachung nicht alle Punkte unserer rund 2600 km langen Grenze verteidigen könnten, scheint einleuchtend. Doch die Gretchenfrage für den Politiker blieb bis heute: Wie sag ich’s meinem Kinde, daß Steuerleistung allein noch keine Garantie für einen militärischen Verteidigungsschutz sein kann. Bedenken der Militärs, allen voran General Bach („Furche“ Nr. 49/1971: „Der Schutz der Grenzen ist unmöglich“), in den flachen Teilen des Ostens einer Materialschlacht mit einem technisch überlegenen Gegner nicht gewachsen zu sein, veranlaßten sie, davor zu warnen, daß wir den Verteidigungskampf nicht an den Grenzen aufnehmen könnten.

Minister Lütgendorf, sich der sachlichen und politischen Zwänge in dieser Frage bewußt, trat nun etwas überraschend die Flucht in die Öffentlichkeit an. Der „große Schweiger“ wurde selbst in einer überaus diffizilen Materie gesprächiger als die transparenzbewußten Politiker. Noch bevor er seinen angekündigten „Psycho-Plan“ realisieren konnte — einer in der Schweiz und Schweden seit langem geübten psychologischen Vorbereitung der Bevölkerung auf den Verteidigungsfall —, warf er dem Österreicher unvorbereitet wohl einen der größten Brocken seines Konzepts zum Verdauen vor.

Lütgendorf will jene Räume, die nur durch große militärische Anstrengungen zu halten wären, zugunsten von Zonen aussparen, die mit weniger Kräften nachhaltiger zu verteidigen sind.

Einfach gesprochen: im „Käselaib“ Österreich unverteidigte „Emmentaler-Löcher“ schaffen.

Generalmajor Spannocchi, adeliger Offizierskamerad des Ministers, bereitete in einem Artikel in der militärischen Fachzeitschrift ÖMZ im vergangenen Jahr den Boden dieser Gedanken vor. Unter dem Titel „Die Verteidigung des Kleinstaates“ versucht er, abgeleitet von den Armeen der Theoretiker des Kleinkrieges, Mao, Che Guevara, Giap, Grivas und Tito, das Modell eines den geopolitischen, strategischen und rüstungstechnischen Gegebenheiten der siebziger Jahre angepaßten Heeres zu zeichnen. Dieses Heer skizziert er als keine Fortsetzung konventioneller Führungsprinzipien. Als verwerflich prangert er an, daß man sich bisher an den mißglückten Prinzipien eines vergangenen Krieges orientieren wollte. Spannöcchis Heer ist operativ keineswegs beweglich, schlägt keine klassischen Schlachten und sucht die Ökonomie seiner Kräfte darin, daß es sich aussichtslosen Kämpfen entzieht.

Millionen für Bunker

Dem aussichtslosen und mörderischen Kampf in den Straßenschluchten Wiens will sich auch der General-Minister entziehen. Obwohl Österreich bisher noch nicht das Abkommen über den Kulturgüterschutz unterzeichnet hat, möchte er auch Salzburg den Schutz einer sogenannten offenen — heißt unverteidigten — Stadt angedeihen lassen.

Erste Initiativen in dieser Richtung scheiterten noch in der Koalitionsära an der Gedankenwelt der älteren Sozialisten. Wenn wir Wien aufgeben, sollen Schärf und Probst ihre Einwände formuliert haben, geben wir Österreich auf.

Aber nicht nur politische Ressentiments stellten sich Lütgendorfs Überlegungen entgegen. Neben dem Umstand, daß das Völkerrecht eine Deklaration einer „offenen Stadt“ einer Vereinbarung der Kriegsparteien überläßt, geben militärische Fachleute ihren Bedenken Ausdruck, ob nicht diese Vorwegnahme eines Abwehrkonzepts dem Gegner Rückschlüsse auf die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung ermöglicht. Und in Westösterreich mehren sich die Stimmen, die fragen, ob dann die Abwehrlast auf ein Drittel der Bevölkerung überginge. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die führungstechnische Struktur des Staates und damit des Heeres auf Wien zugeschnitten ist. Eine Aufgabe von Wien würde einer Aufgabe dieser Einrichtungen auf dem Fernmelde- und Radarsektor schon in den ersten Stunden einer Auseinandersetzung bedeuten. Denn sie wären ansonsten sicher das Ziel der ersten Luft- oder Raketeneinsätze.

Doch vorerst scheint man sich über bereits verbaute und noch zu ver- bunkemde Millionen, etwa in Wien, keine Gedanken zu machen. Lütgendorfs Vorprellen wird ihm bald die völlige Herausgabe seines Konzepts abnötigen. Doch daran soll man bereits in der Landesverteidigungsakademie arbeiten. Spät, aber doch.

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