6800018-1971_29_14.jpg
Digital In Arbeit

Mary Stuart — absurd

Werbung
Werbung
Werbung

Die Buchausgabe der „historischen Szene“ von Wolfgang Hildesheimer „Mary Stuart“, die im Dezember 1970 im Düsseldorfer Schauspielhaus ur- aufgeführt wurde, erlaubt und bewegt kritische Diskussionen auf zwei sehr verschiedenen Ebenen.

Zu prüfen ist, ob der Angriff auf die Geschichtsphilosophie richtig und begründet ist und ob Hildesheimers Drama als Kunstwerk taugt. Die erste Frage stellt sich teilweise unabhängig von ihrem Anlaß. Sie umgreift den ganzen Komplex dessen, was heute als Entmythologisierung en vogue ist Soweit es dabei um weiter nichts als die gesunde Gegenreaktion auf den Heroismus unseliger Erfahrung geht, ist der Prozeß zu begrüßen. Im Auf und Ab der Literaturgeschichte muß eben auch einmal die Erkenntnis zum Durchbruch kommen, daß die Helden auch Unterhosen anhatten und die Heiligen einen Geschlechtsteil besaßen. Von dem Schock, den man mit solch eigentlich primitiver Wahrheit einem ästhetisch verbildeten Publikum einjagen kann, läßt sich eine Weile recht gut leben. Aber es kommt unweigerlich der Augenblick, in dem damit zu wenig erklärt ist. Denn zu wissen, daß Helden auch Menschen waren, ist keine Antwort auf die Rätsel der Geschichte.

Der Verdacht, daß die großen Gestalten, die „tragisch Scheiternden“ und Gelenkten der „ewigen Mächte“ bei Ihren Entscheidungen von den alltäglichen Sekretionen ihrer Drüsen gelenkt werden könnten, liegt sozusagen in der Luft. Aber wer ist der Herr ihrer Drüsen? Und wer der Herr ihres Gewissens?

Diese Fragen, die sich doch eigentlich aufdrängen, übersieht Wolfgang Hildesheimer mit kurzer Konsequenz. Ihm ist Geschichte ein absurdes Spiel, aus dessen Sinnlosigkeit nichts zu lernen ist. Der Trivial- Sartre, der ihm dabei über die Schulter schaut, hat ihm dazu allerhand eingegeben.

Wenn Geschichte wirklich so sinnlos ist, wozu sie dann auf die Bühne bringen? Und wozu ausgerechnet ihre markantesten Gestalten befragen und umfunktionieren? Etwa nur deswegen, weil sich auf diese Weise von der Substanz der Tradition zehren läßt? Ohne Original keine Parodie.

Die zweite Frage ist, ob sich mit den Mitteln erkannter und bekannter Geschichtsabsurdität ein dramatisches Werk gestalten läßt. Der künstlerischen Verpflichtung kommt man nicht mit neuen Namen aus, nicht mit Text statt Gedicht, nicht mit historischer Szene statt Drama.

Hildesheimer hat sich mit aller handwerklichen Raffinesse an einen derben Realismus gehalten. Was da im Landsknechtstil agiert und natürlich auch mit gestelzter Rede zum Lachen reizt, das ist die aufs Körperliche reduzierte Geschichte. Reflektiert auf den Einwand gegen die Historienklassiker (So kann es nie und nimmer gewesen sein!), kann man dazu nur sagen: Und so kann es auch nicht gewesen sein!

Woraus auch schon das Resultat abzulesen ist. Bewußtmachen der Fragwürdigkeit jeglichen Geschichtsbildes, Befreiung vom Klischee, mehr Offenheit für Modelle der Wahrheit. Mary Stuart, die Hysterische oder die Heilige, das Absurde daran ist nicht ihre Existenz, sondern nur der Versuch, in der Indiskretion mehr als das Absurde zu erfahren.

MARY STUART. Historische Szene von Wolfgang Hildesheimer. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main. Paperback, 78 Seiten. DM 14.—.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung