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Mensch oder Legendenfigur?

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Die Literatur über Richard Wagner . und sein Werk füllt eine kleine Biblio­thek. Trotzdem mußten wir auf die vollständige, gültige und gutgeschrie­bene Biographie fast bis zur Wieder­kehr seines 100. Todestages warten. Ihr Autor ist Martin Gregor-Dellin, ein hochgebildeter Mann und ein brillan­ter Schriftsteller; als Mitherausgeber der umfangreichen zweibändigen Tage­bücher Cosimas ein Bayreuth-Insider - und trotzdem kein „Wagnerianer“.

Wiederholt betont der Autor, es handle sich bei seinem Buch um eine Bio­graphie, eine „Erzählung“ - und um kein „Musikwerk“, obwohl Gregor- Dellin auch auf diesem Gebiet durchaus kompetent ist. Bei einem Buch dieses Umfangs (von fast 1000 Seiten) ist es nicht ohne Bedeutung, daß ihm eine kaum überbietbare Brillanz des Vortra­ges bescheinigt werden kann. Denn man liest diesen „Wälzer“ nicht nur ohne Ermüdung, sondern mit Span­nung.

Freilich war Wagners Leben und Treiben auch darnach. Schon zu seinen Lebzeiten hat man soviel über ihn ge­schrieben und geredet, wie über kaum einen anderen Zeitgenossen, und nach seinem Tod hat niemand die Kunstwelt so beschäftigt, wie er, ausgenommen Picasso und die Beatles. Das beginnt mit seiner Geburt, mit den Gerüchten um die Vaterschaft Ludwig Geyers - der übrigens, wie mancherorts geflü­stert wurde, nicht jüdischer Abstam­mung war. Erstmalig werden auch die Quellen aufgedeckt, die dazu verleite­ten, aus Wagner einen Sozialrevolutio­när, ja einen Marxisten zu machen. Die Bekanntschaft mit Bakunin ist erwie­sen und die Kenntnis der Theorien, wenn auch nicht der Schriften von Karl Marx vermittelte ihm sein Freund, der deutsche Freiheitsdichter Georg Her- wegh.

Auch über Wagners Antisemitismus erhalten wir Klarheit: sein Verhältnis zu den Juden war durchaus ambivalen­ter Natur, angefangen mit Meyerbeer bis zu Heinrich Heine, mit dem er zwar in Paris freundschaftlich verkehrte und den er sehr verehrte, was er in späteren Jahren vergaß, besser „verdrängte“.

Das schwierigste, peinlichste Kapi­tel, sein Verhältnis zu Ludwig II., ana­lysiert Gregor-Dellin mit ebensoviel Offenheit wie Takt und deutet es als Rollenverhalten unter falschen Voraus­setzungen und gegenseitigem Mißver­stehen in den letzten privaten und künstlerischen Fragen.

Ebenso schwierig, wenn auch nicht so heikel, sind Wagners Kunsttheorien. Er hat allein in den Jahren 1849-1851 nicht weniger als 650 Seiten über das

Kunstwerk der Zukunft, das Musik­drama, über Kunst und Religion und vieles andere geschrieben. Aber wer hat diese - zugegeben oft krausen - Expek­torationen wirklich gelesen und sie zu verstehen gesucht? Die Verbindung darin von Hochbedeutsamem mit Ab­surdem und Dilettantischem hat viele Wagner-Forscher beunruhigt und be­schäftigt. Gregor-Dellin spricht von Ti- tanismus und geistiger Elephantiasis und hat damit, bei allem Respekt, das Kind beim Namen genannt...

Und schließlich Wagners Verhältnis zur Bühne, zum Theater, zur Inszenie­rung seiner Werke, ktflminierend im Desaster der ersten Aufführung der Ring-Tetralogie. Wagner konnte - und er tat es mit Lust - jedem seiner Sänger den von ihm erwünschten Ausdruck samt jeder kleinsten Geste vormachen. Aber er besaß keine optische Phanta­sie. Er wußte nur, was er nicht wollte, was ihm mißfiel. Aber wie es richtig zu machen wäre, davon hatte er keine kon­krete Vorstellung und konnte daher auch nicht maßgeblich an der szeni­schen Realisierung seiner Werke mit­wirken. So ist sein Stoßseufzer zu ver­stehen: „Ich habe das unsichtbare Or­chester erfunden, aber ich habe leider noch nicht die unsichtbare Bühne Für meine Werke.“

In Gregor-Dellins Buch schließen sich an die überaus wichtigen und inter­essanten Anmerkungen, Kommentare und Dokumente eine Bibliographie und eine Zeittafel nebst Register. In der Bi­bliographie bilden die verschiedenen Briefe und Korrespondenzen ein eige­nes Kapitel.

Und hier haben wir die einzige, Für uns schmerzliche Lücke entdeckt. Zwar wird in dem entsprechenden Ab­schnitt über Wagners Aufenthalt in Wien berichtet, wo er vom 1. Novem­ber bis 13. Dezember 1875 weilte und mit Familie im Hotel „Imperial“ lo­gierte. Zweck des Aufenthalts war die Neueinstudierung von „Tannhäuser “ und „Lohengrin“ an der Wiener Oper. Aber die hierauf bezügliche Korrespon­denz mit der Direction des K.K. Hofo­perntheaters bzw. der Intendanz wird in dem Buch nicht ausgewertet, die Korre­spondenz, immerhin neun ausFührliche Briefe, nicht erwähnt. Sie wurden 1950 aufgefunden und in den Nummern 5 und 6 der Zeitschrift „Das Musikle­ben“, Mainz, sowie auszugsweise auch in der „FURCHE“ ausFührlich kom­mentiert, eingeleitet und veröffentlicht. Also - vielleicht eine Ergänzung Für die nächste Auflage, die wir diesem Buch aufrichtig wünschen.

RICHARD WAGNER. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert. Von Martin Gregor-Dellin. R. Piper & Co Verlag München, Zürich. 1980. 930 Seiten, öS 369,60

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