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Musikalische Prophezeiungen

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Vor einem zahlreichen, vorwiegend jugendlichen Publikum fand das große „prospektive“' Konzert des BBC-Orchesters unter der Leitung von Pierre Boulez statt. „Tetra-morph“ für 20 Streicher und elektronische Klänge von Justin Connolly (geb. 1933), ein Auftragswerk der BBC, stand im Zentrum des Programms und war eingerahmt von Bruno Madernas „Juilliard Serenade“ und Karlheinz Stockhausens „Mixtur“. Jedes Werk wurde vor der Aufführung erläutert von Pierre Boulez, der nach dem Konzert Fragen aus dem Publikum beantwortete.

Der Titel „Tetramorph“ bedeutet „vierfache Form“ und greift zurück auf die symbolische Bedeutung der Zahl „vier“ in Mythos und Religion im allgemeinen und auf die vierför-mige Vision des Propheten Hesekiel im speziellen. Direkt angeregt wurde Connolly allerdings weniger durch die Visionen Hesekiels als durch den Wunsch, einen ihrer spezifischen Aspekte, nämlich die Wechselwirkung lebendiger und mechanischer Elemente, musikalisch wiederzugeben, und er zitiert als Inspirationsquelle die Stelle aus dem Buch Hesekiel, wo die Rede von der Erscheinung des Rades ist: „Als ich die Tiere sah, da stund ein Rad auf der Erde bei den vier Tieren, und war anzusehen wie vier Räder... und waren alle vier eins wie das andere ... als wäre ein Rad in dem anderen. Wo der Geist sie hintrieb, da gingen sie hin; und die Räder hüben sich neben ihnen empor, denn es war der Geist der Tiere in den Rädern.“

Man kann sich gut vorstellen, daß Connolly eine derartige Verschmelzung von Geist und Materie, ein mechanisch so kompliziertes Räderwerk, eine so vieldeutige geistige Struktur als Herausforderung und Anregung empfand und die Gegenüberstellung elektronischer und instrumentaler Mittel wirkt in diesem Zusammenhang durchaus plausibel und gerechtfertigt. Daß es ihm nicht gelang, den Konflikt zwischen den beiden Elementen musikalisch auszudrücken und ihre Integrierung herbeizuführen, lag daran, daß er von falschen Voraussetzungen ausging und für die Bearbeitung elektronischer Mittel Denkformen benutzte, die von dem klassischen Streichquar-tet abgeleitet sind.

Connollys Orchester besteht aus vier Streichquartetten, während Klarinette, Trompete, Cello und Schlagzeug das Tonband bespielen. Die Gegenüberstellung von Tonband und Instrument konzentriert sich weniger auf einen Austausch des Materials wie auf eine Umdeutung der Funktion. Während die Streicher mit maximaler Komplexität beginnen und allmählich auf Einheitlichkeit zusteuern, bewegt sich das Band in entgegengesetzter Richtung von Einheit zu Vielfalt der Ereignisse. Jeder der drei Abschnitte endet mit einer ausgedehnten Koda, die regelmäßig mit einer Bandepisode beginnt und das Werk auch elektronisch beschließt.

Das Verhältnis von elektronischem und instrumentalem Klang bildet den wesentlichen Inhalt des Werkes. Abweichung und Annäherung der beiden Elemente wird jedoch nicht strukturell behandelt und kann daher auch nicht analytisch, sondern nur intuitiv beurteilt werden.

Wenn man den akustischen Eindruck untersucht, dann kann man nicht umhin, in Connolly den Vertreter eines typisch englischen Streicherklanges zu sehen, der bei Arthur Bliss, Michael Tippett und Peter Racine Fricker, Connollys Lehrer, anzutreffen ist, während sich der unbestreitbare Einfluß Bela Bartoks besonders auf das Gebiet von Rhythmik und Artikulation auswirkt. Reiner, unverfälschter, unverfremdeter Streicherklang läßt sich jedoch schlecht mit Elektronik verbinden und weder empfindet man die Notwendigkeit des elektronischen Beitrags noch wird die Dualität der Mittel die Zweideutigkeit der biblischen Vision illustrieren.

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