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Musikalische Maifesttage

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Die Reihe der musikalischen Veranstaltungen der österreichischen Kulturvereinigung wurde mit dem Meisterkonzert von Ginette Nevc glanzvoll eröffnet. Die beim ersten Wiener Auftreten der Künstlerin — im Rahmen des französischen Konzertes der Philharmoniker unter Charles Münch — gewonnenen Eindrücke wurden bestätigt und vertieft. Ginette Neveu spielte Corelli und Bach weder barock, klassizistisch noch „romantisch“, sondern sehr persönlich. Stil interessiert sie wenig, um so mehr aber die Ausdrucksmöglichkeiten, die in jedem einzelnen Satz, in jedem Takt gleichsam verborgen liegen. Aber die weiß sie zu finden und bemächtigt sich ihrer mit der ganzen Kraft ihrer Persönlichkeit, mit allen Mitteln der ihr zur Verfügung stehenden Technik, mit der vollen Leidenschaftlichkeit ihres Temperaments. Die Pastellfarben der Debussy-Sonate beginnen unter ihrem Bogen zu leuchten, das zarte Linienspiel wird bewegt und spannungsreich: ein neuer De-bussy ersteht vor unseren Sinnen. Ein schönerer? Allenfalls ein vitalerer. Und selten wird der ursprüngliche Sinn des Kampfrufes einer literarischen Schule der Jahrhundertwende so deutlich, wie beim Anhören des Spieles von Ginette Neveu „Kunst ist Natur, gesehen durch ein Temperament“. Die Künstlerin vermag selbst Stücken von so wenig wählerischer Inspiration wie dem „Intermezzo“ ~von Lalo (Mittelteil) noch Musik und Adel einzuflößen. Vor der virtuosen Öde von Paga-ninis „Campanella“ muß allerdings auch sie die Waffen strecken und vermag nur noch durch Tonschönheit und Bravour zu entschädigen. Neben diesem Virtuosenstück wirkte die Terzen-Etude von Scriabine geradezu nobel und gehaltvoll. Wer rumänische Volksmusik kennt, wird die ursprüngliche Intuition der Geigerin bei der Wiedergabe einer „Hora“ (Reigentanz) und einer Bagatelle von Scarlattescu ganz besonders bewundert haben. Der Abend Ginette Neveu war ein künstlerisches Erlebnis ersten Ranges und ein ganz großer Erfolg für die Künstlerin und ihren Bruder, dessen Verdienst vor allem darin bestand, in selbstloser Weise völlig zurückzutreten und hinter der eigenwilligen Persönlichkeit seiner Schwester gleichsam zu verschwinden.

In einem Klavierabend wurde der neuartige Versuch unternommen, vier Pianisten nebeneinander und einander gegenüberzustellen. Es hätte also die Möglidikeit bestanden, den Zuhörern infolge der Verschiedenheit der Technik und der Interpretation interessante Vergleichsmöglichkeiten und wertvolle Anregungen zu bieten. Aber nicht alle Experimente glücken. So verschieden veranlagt die jungen Künstler sein mögen — ihre Leistungen an diesem Abend hatten einen gemeinsamen Nenner: Mittelmäßigkeit. Sehr gute Durchschnittsleistungen mit Ansätzen zu echter künstlerischer Gestaltung. Je bedeutender der Gehalt der einzelnen Werke war, je weniger sie vom Technischen und durch den guten Willen allein bewältigt werden konnten, umso deutlicher traten die Mängel der Interpretation zutage. Kurt Rapf hatte sich — in diesem Sinne — das schwerste, Gilbert Winkler das leichteste Stück gewählt. Die vier jungen Musiker kamen nicht mit leeren Händen. Jeder brachte etwas mit. Kurt Rapf („Appassionata“) eine solide, aber etwas grobe Technik und ein gewisses Verständnis für Form und Gehalt des Werkes, das er spielte. Andrzej Wasowski (H-moll-Sonate von Chopin) das ehrliche Bestreben, im Geist und Stil seines großen Landsmannes zu musizieren, woran ihn aber eine gewisse Trockenheit und Kargheit der eigenen Persönlichkeit hinderte. Gilbert F. Winkler, ein allerjüngster Amerikaner, hat einen beachtlichen Klangsinn, den er wahrscheinlich sehr bald realisieren lernen wird. Die Richtung, in die er tendiert, war durch die Wahl der in Aussicht genommenen Stücke (Preludes von Debussy) und der beim Konzert vorgetragenen „Zehn Bilder aus einer Ausstellung“ von Mussorgski deutlich angezeigt. Tibor von Wehner verfügt über eine bemerkenswerte Virtuosität und physische Kraft (die nicht, zu unterschätzen ist!). Vieles andere fehlt ihm vorläufig noch.Eine dankenswertere Aufgabe und für das Publikum ergiebiger wäre es, einmal drei oder vier reifere, bedeutende Pianisten an einem Abend das gleiche Werk spielen zu lasseh. Wenn hierfür ein kleinerer Rahmen, etwa der Brahms-Saal, gewählt würde, könnte das Experiment gewagt werden. Sein Gelingen stände außer Frage. —

Im Festkonzert der Philharmoniker vermittelte uns die österreichische Kulturvereinigung die Bekanntschaft mit der interessanten Persönlichkeit des englischen Komponisten und Dirigenten Arthur Bliss. Er ist ein ausgezeichneter Ballett-Komponist, der alle Voraussetzungen, die diese Kunstgattung verlangt, mitbringt und bis zur Meisterschaft ausgebildet hat. Seine Musik ist schlagkräftig, dramatisch und farbig. Anregungen der zeitgenössischen Musik, besonders von Ravel, Respighi und Strawinski, sind geschmackvoll verarbeitet. Klang und Rhythmus befinden sich in einem wohlausgewogenen Verhältnis. Im Wesen des Genres und der Aufgabe, die er sich gestellt hat, liegt es, daß Formfragen sekundär behandelt werden. Bliss dirigierte wirkungsvolle Szenen aus dem Ballett „Schachmatt“ und sein dem amerikanischen Volk gewidmetes Klavierkonzert, das er 1939 geschrieben hat. Ebenso effektvoll wie seine Orchestertechnik ist auch sein Klavierpart: ein sehr dankbarer Klavierpart fast Lisztscher Prägung, den Shulamit Shafir (London) sehr ansprechend interpretierte. Als Melodiker entfaltet sich Bliss am schönsten in dem kammermusikalisch angelegten zweiten Satz (Adagietto), in dem auch einige sparsame Herztöne zu hören waren. Im zweiten Teil des Konzertes dirigierte Josef Krips die VII. Symphonie von Beethoven. Das Alle-gretto war eine klangliche und dynamische Meisterleistung der Philharmoniker, denen auch ein beachtlicher Anteil am Erfolg des ersten Teiles des Konzertes zukommt.

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