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Nochmals: Der Christ und der Fortschritt

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In meinem letzten Beitrag versuchte ich, dem Leser nahezulegen, daß der Christ gewichtige Gründe habe, der Fortschrittsgläubigkeit unseres Zeitalters skeptisch gegenüberzustehen. Wenige Wochen, nachdem ich diese Zeilen eingesandt hatte, begegnete ich in den „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyola einer Wendung, die mich stutzig machte: Ignatius schreibt da, wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie es um „unseren Fortschritt auf dem Weg zum Heil“ stehe. Gibt es also doch eine Art von Fortschritt, die dem Christen am Herzen liegen und zu der er sich bekennen muß?

Dies ist in der Tat der Fall. Das neuzeitliche Gerede von einem gesamtgeschichtlichen Fortschritt, einem Fortschritt der Menschheit, hat dazu geführt, daß wir uns immer seltener darüber Gedanken machen, wie e um meinen Fortschritt steht. Weil auch wir Christen dem Wahn verfallen sind, trotz gelegentlicher Rückschritte würde im wesentlichen alles ständig besser, vergessen wir, uns zu fragen, ob wir besser geworden sind.

Zwischen einem Fortschritt der Menschheit und meinem Fortschritt besteht ein Unterschied: Der Menschheitsforschritt vollzieht sich angeblich irgendwie automatisch; zwar gibt es einzelne historische Gestalten, von denen wir meinen, ihr Denken und Tun hätten der Menschheit oder der Geschichte gleichsam einen Ruck nach oben gegeben, aber auch solche Persönlichkeiten sehen wir irgendwie als untergeordnete Elemente einer allgemeinen Bewegung nach oben oder nach vorne. Der Menschheitsfortschritt ist immer die Entwicklung eines Systems: der gesellschaftlichen Struktur, der politischen Organisation, der ökonomischen Verhältnisse, der „communitiy of scholars“, der Geschichte, der Menschheit. In dieses System ist der einzelne eingespannt und trägt zu seiner Entwicklung bei, ohne es eigentlich zu bemerken. Deswegen ist der Fortschritt, an den man hier denkt, eigentümlich ethisch neutral, genauer: erweist sich immer dasjenige als Fortschritt, was am Ende siegt, faktisch herauskommt, also unvermeidlich die Zukunft.

Mein Fortschritt dagegen ist alles andere als automatisch. Um mich zu bessern, muß ich mich dazu entscheiden, muß ich mich bemühen, muß ich die unvermeidlichen Rückfälle selbst wieder gutmachen. Wenn ich einfach weiterwurstle, mich treiben lasse, mich der jeweiligen Mode anpasse,

den Zeitgenossen immer nur zu gefallen suche, werde ich mich nie bessern. Ich muß an mir arbeiten, mich in Tugenden einüben, auf allerlei verzichten, mich immer wieder von neuem prüfen, um mir dann jeweils zu sagen: hier hast du gesündigt, dort versagt, hier hast du im Eifer nachgelassen, dort vergessen, daß es dein Ziel war, Christus nachzufolgen.

Der große Irrtum,der Neuzeit bestand und besteht zunehmend in der Vorstellung, man könnte Menschen dadurch bessern, daß man ihr Zusammenleben besser organisiert. In Wirklichkeit gibt es höchstens soziale und politische Organisationsformen, die es dem Menschen erleichtern oder auch erschweren, gut zu sein. Und es spricht einiges dafür, daß soziale Verhältnisse und politische Strukturen, die wir heutzutage als gut ansehen, es uns letztlich erschweren, besser zu werden. Man denke nur an die Christen in totalitären Regimen: ihr Einsatz gereicht uns zur Schande. .

Sollte es einen Menschheitsfortschritt überhaupt geben können, dann nur d adurch, daß immer mehr von uns sich bemühen, einzeln auf dem Weg zum Heil fortzuschreiten. Es versteht sich von selbst, daß dieser Fortschritt nicht darin bestehen kann, täglich zur Messe zu gehen und mit seinen Mitmenschen gleichbleibend ekelhaft zu sein. Aber er besteht gewiß auch nicht darin, daß wir immer den anderen vorrechnen, sie sollten sich bessern. Jeder kann nur und muß bei sich selbst anfangen.

Der Versuchung, dies zu übersehen, sind wir Christen keineswegs weniger als Nichtchristen ausgesetzt. Es ist eben sehr viel bequemer, mit der Besserung einerseits beim System, anderseits beim Nächsten anzufangen.

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