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Selbstmord der Kultur

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„Winter in Wien“, ein Tagebuch von Reinhold Schneider, gehört zu den Ausnahmsfällen. Jenseits aller Versuchungen des literarischen Hochmuts enthält dieses Werk des Abschieds, geschrieben von einem, der innerlich den Abschied schon vollzogen hat, eine Fülle von provo- und evozierenden Sätzen. Es besteht aus Notizen, denen es nicht um Gestaltung, sondern nur noch um die wahrhaftige Vermittlung dessen zu tun ist, was der von seiner Todeskrankheit Gezeichnete erfährt und leidet. Am 5. November 1957 traf Reinhold Schneider in Wien ein und blieb bis zum 6. März 1958. Er starb am 6. April in Freiburg.

Daß solche Aufzeichnungen zu einem bedeutenden Verlag und schließlich bis auf uns, die Nachgeborenen, kommen, dazu bedarf es eines sehr subtilen Schicksalsmechanismus, man könnte in ihm ein „Zeichen“ erkennen. Was mußte nicht alles Zusammentreffen: Der frühe Ruhm eines Deuters der europäischen Geschichte, dargelegt in den dreißiger Jahren mit umfangreichen Werken, der katholische Widerstandskämpfer in der Hitlerära, der Mahner zur Friedenspolitik in den fünfziger Jahren. Diese Stationen sind erforderlich, damit das weit über die Literatur hinausreichende und doch ganz intime Ereignis dieses Winters in Wien für uns aufbewahrt und auch heute erkennbar wird.

Denn Schneiders Agonie hebt ihn über sich selbst hinaus, steigert nochmals sein Geschichtsbewußtsein, sein Mitleid mit dieser letzten Weltzeit, da nun Kaiser Atom in der Hofburg residiert und seine Konferenzen einberuft. Wird der Selbstmord der Kultur unvermeidbar, sobald die Ergebnisse der Naturwissenschaft in die so völlig ungeläu- terte Willenswelt der Gesellschaft ein- dringen? Als „christlicher Atlas“, wie ihn Kurt Adel nennt, trägt Schneider die Last einer Epoche, die nicht nur die Selbstzerstörung Europas beschleunigt, sondern nachher im sogenannten Wiederaufbau alles getan hat, um die Totalvernichtung vorzubereiten. Dem Leichtsinn der Schwerindustrie setzt Schneider seinen unerbittlichen Ernst entgegen.

Aber nicht nur den anderen, auch sich selbst, seiner Stellung als poetą va- tes, seiner bisherigen Überzeugung begegnet er mit solcher Radikalität, wie man sie kaum bei denen findet, die sich so gern damit brüsten. Denn ihm ist es ja nicht um einen konsequent durchgehaltenen Gestus innerhalb einer Ideologie zu tun. Er will aufrichtig über das berichten, was sich in ihm ereignet. Wessen Lebensinhalt so wie bei ihm in

einem allgemeinen Geschichtsbewußtsein aufgeht, für den hat auch der Tod eine universale Dimension. Unterscheidet er sich überhaupt noch vom Ende der unbewußten Kreatur?

In diesen letzten Monaten hält Schneider einer Konstellation die unverbrüchliche Treue, dem Gebet, „der stillen Bestätigung eines rätselvollen Zusammenhangs“. Er trägt seine Einsamkeit, ja seinen Zweifel, ja seine Anfechtungen des Unglaubens in die Kirche der hl. Barbara. Im sakralen Raum erfährt er bis zuletzt den Zusammenhang seiner ihn isolierenden Schwermut mit der Glaubensgemeinschaft des Kreuzes, für die er einstmals so Wesentliches vollbracht hatte.

Verständlich, daß nun diese Gemeinschaft ihrerseits darum ringt, die Zugehörigkeit Schneiders zur Theologie des Kreuzes zu erweisen, obwohl im Wortsinn wie in der Methode eines rein psychologisch motivierten Glaubens der Winter in Wien mancherlei enthält, das theologisch nur als Teilaspekt des Glaubensgutes annehmbar ist. Noch immer bedeutet also die Botschaft Reinhold Schneiderseine Herausforderung an die Theologie.

Nun hat die Hamburger Stiftung unter der Initiative Heinrich Ludewigs einen Sammelband mit neun Aufsätzen herausgebracht, in denen die Frage „Widerrufung oder Vollendung“ von Theologen, unter ihnen der Bischof von Aachen, Klaus Hemmerle, und Literaturhistorikern vielseitig beleuchtet wird.

Diese bedeutungsvolle Arbeit könnte eine mehrfache Funktion erfüllen: Sie sollte die junge Generation zu einem Schriftsteller führen, dem im deutschen Sprachraum eine ähnliche Bedeutung zukommt wie Georges Bernanos in Frankreich. Durch die Texte wird offenkundig, wie sich die Kirche nach 25 Jahren tiefgehender Veränderungen zu dem verhält, was damals schockierend gewirkt hat. In der dritten Zone aber wird deutlich, wie Reinhold Schneiders persönliche Probleme mit der übersteigerten Subjektivität unseres Kulturbereichs verflochten sind. Schwermut, die Todeskrankheit, das jahrzehntelange Zusammenleben mit einer 22 Jahre älteren Frau, all das gibt zweifellos einen Sensibilisator ab: Unsichtbare gefährliche Strahlung wird von ihm wahrgenommen und genau registriert.

Andererseits projiziert er seinen persönlichen Zustand auf die Umwelt. Die Erkenntniskraft und der Projektionszwang verschmelzen bei genialen Persönlichkeiten zu einem einzigen schöpferischen Gestus. Die Nachwelt hat dann das Nachsehen und muß mit diesen eingeschmuggelten „Geistern“ fertig werden, bei der Psychoanalyse ebenso wie bei der Instrumentation eines Tauben in der IX. Symphonie. Oft dauert es Jahrhunderte, bis die nötige Distanz da ist.

Wenn uns Schneider einerseits die bedrohliche Subjektivität des Schöpfers einer Sekundärnatur fühlbar macht, so bringt er doch da und dort seine eigene Subjektivität störend ein. Mit Recht wird Schneiders Satz von einer geschichtlichen Existenz, die noch nie gelebt wurde und zu der wir um des Überlebens willen ein Herz fassen müßten, von der Schneider-Stiftung in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen um den Frieden gestellt.

Zu Unrecht aber wird seine persönliche Depression zu einer universalen Frage der Religion ausgeweitet. Schneiders Melancholie nährt sich in Wien von naturwissenschaftlicher Lektüre. Was auf seine Schwermutsnote zu transponieren ist, spricht ihn an, von den Spinnen bis zu den Sauriern, diesen „Kathedralen der Sinnlosigkeit“. Wer weiß aber, ob sie nicht so groß sein mußten, damit sich der neue Lebenstyp der Säuger klein und ungestört zwischen ihren Beinen entwickeln konnte? Als Misanthrop kann man die Schöpfung leicht in Mißkredit bringen, nur sind solche Projektionen nicht minder

anthropomorph als der Vater-Gott, den sich Schneider nicht mehr anzurufen wagt.

Was Schneider als unvereinbar empfindet, die beiden Aspekte des Numino- sen, den „Kelterer“ und den Vater, den Töter und den Wiedererwecker, das ist überall dort, wo sich eine überintellektuelle Naturbeziehung erhalten hat, immer in mystischer Einheit empfunden und auch verbildlicht worden. Bezeichnet doch die Eucharistie ein Ereignis im universalen Opfercharakter des Lebens.

Übersehen wir zuletzt nicht, daß dieses Jahrhundert in der Größe des Universums Grundgedanken aufspürt, deren mathematische Konvergenz auf wenige oder auf eine einzige Konstante zielt. Die alte Harmonie der Welt des Johannes Kepler erklingt in neuem Jubel. Die Theologia gloriae ist unlösbar von der Theologia crucis.

WIDERRUFUNG ODER VOLLENDUNG. Rcinhold Schneiders „WINTER IN WIEN" in der Diskussion. Mil Beiträgen von Renate Bethge, Lotte Schaukal. Gerhild Becker. Kurl Adel. Klaus Hemmerle. Eugen Biser, Hans-Rudolf Müller- Schwefe. Ekkehard Blatlmann, Wolfgang Frühwald. Verlag Herder Freiburg i.B. 1981.

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