6877410-1978_48_03.jpg
Digital In Arbeit

Sind Sekten gefährlich?

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht Sensationsgier verschaffte dem auf Befehl des Sektengründers begangenen Selbstmord und gegenseitigen Mord von fast 800 „Volkstemplern“ im Dschungel von Guyana solche Publizität in Europa, sondern die Angst vor unbekannten und gefährlichen Dingen vor der eigenen Haustür. Immer mehr in den USA entstandenen Sekten werben auch in Europa Mitglieder an. Viele sind völlig harmlos und achtenswert - andere verlangen absoluten Gehorsam, im aktuellen Fall bis in den Tod: Wir werden nie erfahren, wieviele der 800 den Befehl zum Selbstmord freiwillig befolgten, wieviele ermordet

wurden. Unter den Mördern auf Befehl waren Ärzte und Krankenschwestern. Wie in Auschwitz, Mauthausen und so weiter.

Einer Industriegesellschaft, deren Kernwaffen und Kernkraftwerke nur die Spitze eines Eisbergs höchst komplexer, höchst gefährlicher und zum Teil höchst verwundbarer Technik bilden, ist der Gedanke an die Katastrophen, die das explosive Gemisch von Fanatismus und bedingungslosem Gehorsam jederzeit anderswo anrichten könnte, äußerst unbehaglich. Weshalb sie ihn verdrängt.

Die beruhigende Erklärung einer

am Sonntag in München beendeten Sektenkonferenz, die derartige Ereignisse in Mitteleuropa ausschloß, muß daher nicht unbedingt das schlüssige Ergebnis realistischer Einschätzung der Dinge darstellen. Es könnte auch der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein.

Immerhin schlagen wir uns in Mitteleuropa nach wie vor mit dem Terrorismus herum, und die psychologischen Mechanismen, die Menschen zu Terroristen machen öder veranlassen, sich einer aggressiven Sekte anzuschließen, sind ähnlich. Universitätsprofessor Erwin Ringel, Leiter der Psychosomatischen Abteilung im Wiener Allgemeinen Krankenhaus:

„Sekten bestehen gewöhnlich aus Menschen, die sich absondern. Wer sondert sich aber ab? Die' Ängstlichen, die Unsicheren und solche, die unter starkem Druck von Aggressionen stehen. Sie sammeln sich in Gruppen, wo sie durch das Gruppenphänomen und durch die Regeln, die sie sich geben, stark werden. Der entscheidende Punkt ist also: Wie sehen die Regeln aus, die sich eine solche Gruppe gibt? Wenn es aggressive Regeln sind, wie etwa bei den Terroristen, ist die betreffende Sekte von vornherein als gefährlich zu betrachten.“

„Es können“, so Ringel, „aber auch Sekten mit an sich ungefährlichen Regeln gefährlich werden, wenn man sie angreift.“ Sie oder „die Führerpersönlichkeit, die Vaterfigur, die das Gewissen der Gruppe verkörpert“.

Anderseits sind sich alle Fachleute, mit denen wir sprachen, darin einig, daß sich im Trend zu den Sekten Mängel unserer Gesellschaft ausdrücken. „In der Zugehörigkeit zu sektenhaften Gruppen“, meint der Vorstand der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien, Professor Peter Berner, „manifestiert sich vielerlei, vor allem Unzufriedenheit mit den von der umgebenden Gesellschaft (die größeren Religionen eingeschlossen) angebotenen Strukturen, und das Gefühl, daß man die Probleme der Existenz mit dem etablierten Angebotenen nicht echt bewältigen kann.“

Der Psychologe Wilfried Daim: „Ich kann mir vorstellen, daß unverstandene Jugendliche eine Gemeinschaft suchen und auch bei durchaus obskuren Gruppen finden. Das Gemeinschaftserlebnis ist ohne Frage in den Sekten, die ja Kleinkirchen darstellen, größer als in den Großkirchen. In der NS-Zeit war ja auch die Bindung unter den Katholiken viel stärker, weil wir unter dem Druck eines gemeinsamen Feindes standen. Dieses Gemeinschaftserlebnis unter äußerem Druck haben etwa bei uns die Zeugen Jehovas - oder die Katholiken in Polen.“

Wobei „sicher psychische Komplikationen der Sektenangehörigen eine wichtige Rolle“ spielen (Daim), die von einem Sektengründer gefun-

denen „Formeln für eine Quasi-Lö-sung“ der Anhängerschaft das Gefühl geben, „mit dem jeweiligen eigenen Problem ganz persönlich angesprochen zu werden“.

„Dazu kommt“, so Berner, „daß gerade Sekten mit strafferer Organisation dem Menschen etwas anbieten, wonach er ja immer wieder strebt, nämlich die Abnahme der eigenen Entscheidung. Wir stehen ja immer in dieser Spannung zwischen dem Wunsch nach völliger Freiheit und dem Wunsch, geleitet und geführt zu werden. Sicher sind psychisch gestörte Menschen auch in ihren Entscheidungen zwischen diesen Extremen verunsichert und daher stärker geneigt, sich in solche Bewegungen zu begeben. Deshalb kann es zu einer Höherrepräsentation psychisch gestörter Menschen in allen Extremgruppen (Beispiel: Anarchisten) kommen. Auch Menschen in einer Umgebung, die ihnen geringen psychischen Halt gibt, sind geneigt, sich Gruppen mit einer gewissen Lenkung der Entscheidungen anzuschließen.“

Während die Umgebung den Sekten „hochmütig, herablässend und feindselig“ entgegentritt, wodurch sich „die Reaktion dieser Menschen, die schon gestört sind, aufschaukelt“ (Ringel), kanalisieren sie typische Reaktionen auf typische Konfliktsituationen: „Diese Sekten stehen dann in einem psychologisch-dialektischen Verhältnis zur übrigen Ge-

sellschaft, die bei ihren Minoritäten Krankheit erzeugt, mit ihren Aggressionen gegen Minoritäten aber selbst krank ist. Es gibt unter den Sekten sehr gefährliche Erscheinungen, aber man darf sie keinesfalls isoliert betrachten“ (Daim).

Berner glaubt, „daß man mit drastischen Maßnahmen und Schaffen von Märtyrern das Problem nicht löst, sondern es eher erschwert - man müßte versuchen, den Menschen Alternativen zu bieten, was heute sicher sehr schwer ist“.

Man sollte also „prophylaktisch dafür sorgen“, daß es, so Ringel, „Menschen nicht nötig haben, sich abzusondern, solche Gruppen zu bilden. Wir müssen uns stets fragen, was wir selbst dazu beigetragen haben, daß sie so geworden sind. Im Umgang mit Sekten muß man vorsichtig sein, tolerant und pluralistisch vorgehen und auf jeden Fall trachten, ein partnerschaftliches Gespräch so lange als möglich aufrechtzuerhalten“.

Alle drei Fachleute sind auch darin einig, „daß Erlösungsbedürfnisse mißbraucht werden“ (Daim).

Mit dem Standpunkt „holt's es auße, befreit's es, macht's an Stoßtrupp!“, so Ringel, „geht es nicht“.

Wie die Spreu vom Weizen zu sondern wäre (denn viele Sekten erfüllen legitime seelische Bedürfnisse und werden einwandfrei geführt), wie den „eiskalten Gaunern“ unter den Sektengründern (Daim) beizukommen wäre, weiß vorerst niemand.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung