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Theologie als Bewußtseinsindustrie?

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Neulich hat der Münchner Erzbischof Kardinal Ratzinger festgestellt, daß dem Papstkritiker Hans Küng (dem nun die kirchliche Lehrbefugnis entzogen worden ist) weit größere Publikationsmöglichkeiten als einem kirchlichen Amtsträger, den Papst ausgenommen, zur Verfügung stünden. In der Tat ist sogenannte progressive Theologie nicht ausschließlich eine spontane Lebensäußerung der kirchlich Unterprivilegierten, sondern in weit höherem Maße Bevormundung kirchlicher Öffentlichkeit durch die veröffentlichte Meinung der westlichen Medien.

Die progressiven Theologen sind das Medium der herrschenden Bewußtseinslage in die Kirche hinein. Freilich: Sie könnten auch das Medium der Kirche in die Öffentlichkeit hinaus sein. Sie sollten es sogar.

Statt dessen haben sie sich längst an die sozialliberalen Forderungen unserer Bewußtseinsindustrie angepaßt und verkünden diese Forderungen als Forderungen des Evangeliums selbst. Weil die Theologen bisher einer soziologischen Selbstkritik ihres Auftretens Widerstand leisteten, ist der theologische Anteil an der Desorientierung in unserer Gesellschaft geschickt getarnt worden.

Nehmen wir Küngs Papstkritik (FAZ vom 13. 10.1979) als Beispiel medientheologischer Strategie.

Lebens- und Rechtsformen der Kirche werden mit Selbstverständlichkeit den Funktionen der Gegenwartsgesellschaft unterworfen. Mit der Berufung auf Wissenschaft (auf welche?) wird ein innerkirchlicher Freiraum der Theologie beansprucht. Diese Berufung ist längst als in sich unhaltbar klargestellt: Wie kann mit Berufung auf die neutrale Instanz Wissenschaft ständig Politik zu machen versucht werden?

Der Theologe könnte sich bestenfalls als der ausgewie-senere Bibelexeget erweisen. In der Gemeinschaft der Glaubenden wird denen die Führung zuteil, die mit stärkerer Uberzeugung das Wort zu sprechen vermögen. Die Doppelberufung auf Wissenschaft und auf das Wort in der Gemeinschaft der Glaubenden (Schrift und Tradition) ist in sich nicht haltbar.

Die Wissenschaft hat in der Theologie nur den Sinn, die Sprechsituation selbst klarzulegen. Aber genau das geschieht nicht: Als Konflikt von Theologen mit der Amtskirche wird ausgegeben, was ein Streit der Scheinliberalen Öffentlichkeit mit dem Ärgernis einer nicht integrierbaren Position, eben der Position der Kirche, ist.

Die Etiketten der Front stimmen nicht. Das zu erkennen, braucht allerdings Wissenschaft, Organisationssoziologie zum Beispiel.

Stereotyp sind die Forderungen, mit denen der Papst bei jeder Gelegenheit konfrontiert wird: Aufhebung des Pflichtzölibats, Frau-enordination, Freiheit der Theologie, innerkirchliche Mitbestimmung (auch der Laien), Liberalisierung der Eheauffassung.

Kein Wort hört man darüber, was diese Forderungen bedeuten, welcher Stellenwert ihnen im Zusammenhang unserer kulturellen Lage zukommt. Es kann den Theologen kaum entgangen sein, daß der Tenor dieser Forderungen sexuelle

Emanzipation (d. h. Entdiffe-renzierung der Geschlechtsrollen) und Demokratisierung (verstanden als gesellschaftspolitisches Postulat) sind. Aufgabe der Theologen wäre es, die Bedeutung dieser Forderungen im Lichte des Evangeliums zu prüfen,

statt sie als Forderung des Evangeliums auszugeben.

Der Streit von progressiven Theologen mit den Amtsträgern ist ein Streit um die kulturelle Gestalt der Kirche; ihrer Meinung nach ist das Muster der westlichen Demokratie mit seinen Konsequenzen, der Verlagerung der Verbindlichkeit von Normen in Anpassung an die Industriewelt und Freizeitgewohnheiten, ausschlaggebend. Keine Spur von Skepsis zeichnet die progressiven Theologen darüber aus, ob es der Verantwortung der Kirche entspricht, sich dem allgemeinen Rückzug von Normen anzuschließen. Ob der Kirche Sache es ist, die Schizophrenie der Zeit - beruflicher Leistungsdruck und permissive Freizeit -mitzumachen. Ob die Kirche angesichts der kaum noch gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten und der Erstarrung unseres Systems es sich überhaupt leisten kann, die Selbstverständlichkeiten einer zu Ende gehenden Epoche zu ihrem Strukturgesetz zu erheben, ist ebenfalls eine gewichtige, überhaupt nicht gesehene Frage. Soll die Kirche zur Zunahme der anonymen Christen nach Kräften beitragen?

Ich hoffe auf eine Generation von Theologen, die damit Schluß machen, Schrift-gelehrte der. Bewußtseinsindustrie zu sein.

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