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Jüdisches Selbstverständnis: Unseren Feinden können wir trauen

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Der Holocaust-Schock sitzt tief. Jeder, der heute mit dem jüdischen Volk reden will, muß zunächst lernen, die wirkliche Ebene der Ängste anzusprechen, wenn er gehört werden will.

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Der Holocaust-Schock sitzt tief. Jeder, der heute mit dem jüdischen Volk reden will, muß zunächst lernen, die wirkliche Ebene der Ängste anzusprechen, wenn er gehört werden will.

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Es widerstrebt mir, vom Holocaust zu sprechen, dem versuchten Völkermord der Juden durch die Nazis. Dieses Ereignis ist allzu oft gebraucht oder mißbraucht worden, von zu vielen Gruppen, von Juden und ihren Gegnern, von jedermann, der einen Grund fand, zu schockieren oder mit dem Entsetzen Geschäfte zu machen. Es gebar eine Flut von Literatur, in der versucht wurde, diese Ereignisse wissenschaftlich und auf andere Weise aufzuarbeiten.

Und dennoch können die Auswirkungen auf die jüdische Welt nicht überschätzt werden. Die Zahl der sechs Millionen Toten ist zu einem beinahe magischen Symbol geworden — und zur Zeit leider auch ein Gemeinplatz auf dem politischen Supermarkt. Aber zu denken, daß über ein Drittel des jüdischen Volkes innerhalb einer Periode von fünf Jahren vernichtet wurde, und dann sich vorzustellen, was das, auf eine andere Nation, Gesellschaft oder Religionsgemeinschaft übertragen, bedeuten würde, läßt die Größe und Ungeheuerlichkeit des Ereignisses erkennen. Vor dem Krieg war die Weltbevölkerung der Juden etwa 16 Millionen, 1949, vier Jahre nach dem Krieg, war sie auf elf Millionen zurückgegangen, jetzt sind es 13,5 Millionen — obwohl wir in der Vorstellung anderer als beträchtlich mehr erscheinen.

Ich möchte mich darauf beschränken zu beschreiben, was für ein seelischer Schlag der Holocaust für die jüdische Welt war, jene jüdische Welt, die gerade leidenschaftlich den Westen in die Arme geschlossen hatte und sich mit seinem Nationalismus, seiner Kultur, seinen Werten, seiner Spiritualität identifiziert hatte — häufig auf Kosten der eigenen Tradition. Es war eine unglaublich intensive Liebesgeschichte, obwohl wir nun im Rückblick erkennen müssen, wie einseitig die Liebe war. Aber es war eine Liebe, in der sich der Geliebte plötzlich gegen die Liebende wandte und sie zu verstümmeln und zu vernichten trachtete. Der Schock, den unser Selbstwertgefühl, unsere Identität, Sicherheit und unser Vertrauen in das Urteil der Welt erlitten hatten, war ungeheuer.

Aber das Leben muß weitergehen, und wir können nicht leben mit einer so tiefgreifenden Erfahrung des Betrogenseins oder mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, während andere, Wertvollere als wir, umgebracht worden sind; und so haben wir einen Großteil unserer Antwort auf dieses Ereignis unterdrückt. Wir trauen dem Westen nicht mehr und eigentlich auch nicht dem Osten, und dennoch bleiben wir hier, hauptsächlich, weil wir daran zweifeln, daß es irgendwo einen Ort gibt, wo es besser wäre. So haben wir zwar eine neue, wenngleich zerbrechliche Selbstachtung und Identität, aber eine, die auf einem unausgesprochenen und unaussprechbaren Fragezeichen gegründet ist.

Als Folge davon werden wir dauernd überrascht von Ausbrüchen unerwarteten Verhaltens von Juden, das wir nur teilweise verstehen können und sehr schnell rationalisieren — angefangen von dem Wiederaufleben jüdischer Identität in der Sowjetunion bis zum Entstehen jüdischer Selbstschutzgruppen in den Vereinigten Staaten, von einem fundamentalen religiösen Aufschwung bis hin zu einer semimystischen Identifikation mit den biblischen Grenzen des Landes Israel. All das mag gesehen werden als eine Reaktion auf unsere kolonialistische Vergangenheit, die im Holocaust ihren letzten und grauenhaftesten Ausdruck gefunden hat. Alles das ist ein Zeichen für die Sehnsucht der Juden, „es allein zu schaffen“, sich auf die eigenen Kraftquellen zu besinnen, aus einem tiefen Mißtrauen gegenüber der Umwelt.

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