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Viele Völker, eine Monarchie

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Das Bild Österreichs ist in der französischen Literatur und Geschichtsschreibung stark verzeichnet. Ressentiments, eine jahrhundertealte Rivalität um die Vorherrschaft in Europa und handfeste politische Gegnerschaft bis in die jüngere Gegenwart haben die nüchterne gegenseitige Beobachtung und Beurteilung beeinträchtigt. Dabei sind sich — bei näherer Betrachtung — Franzosen und Österreicher in vielem so ähnlich. Das französische savoir vivre ist mit jenem stark individualisierten Habitus des Österreichers sehr verwandt, auch die Vorliebe und das Interesse für eine humanistische Geistigkeit, für Kunst und Kultur — wo anders als in Paris und Wien wird derlei denn noch überhaupt gepflegt?

Einer der bedeutendsten Historiker Frankreichs, Professor an der Sorbonne und ein Fachmann für die Geschichte des Donauraums, ist Vic-tor-Lucien Tapii, ein Freund Österreichs, aber auch der österreichischen Nachfolgestaaten. Als „Ergebnis von fast fünfzigjähriger Forschungstätigkeit“ (Vorwort) liegt als Hauptwerk des (1974 verstorbenen) Tapii nunmehr eine Darstellung über „Die Völker unter dem Doppeladler“ vor.

In dieser Geschichte der Donaumonarchie liegt das Schwergewicht auf den Völkern und ihrer Entwicklung: den Slawen, den Ungarn und den Deutschen. Sie räumt des weiteren der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gleichen Rang neben der politischen Geschichte ein. Aus dieser Sicht leistet der französische Historiker hier eine notwendige Ergänzung zu den vorhandenen Geschichtswerken.

In brillanter Synthese macht Tapie die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen dem Leben der Völker und der Politik der Habsburger transparent. Auf der einen Seite ein Geflecht von Konstitutionen, Privilegien, Traditionen und Sprachen — auf der anderen Seite eine Monarchie, die ihre Territorien gegen das Eindringen der Türken schüfet und gleichzeitig die wirtschaftliche Entwicklung der Bevölkerung fördert, wie man es etwa an den barockisierten Stadtbildern ablesen kann.

Durch seine spezifische Sicht hebt sich dieses Buch deutlich von allen bisherigen „Geschichten Österreichs“ ab und vermittelt neue Zugänge, die bis jetzt unberücksichtigt geblieben sind.

Dabei faszinieren vor allem jene Passagen des Werkes, in dem sich der Verfasser vom Standort der Nationalitäten mit der habsburgischen Geschichte beschäftigt — ein Gesichtspunkt, der einem „gewachsenen“ Österreicher zumeist ja fremd ist.

Kommt Tapie zu einem Schluß? Nun, die Darstellung der Zwangsläufigkeit der Entwicklung und Selbstzerstörung der Donaumonarchie ist nicht neu. Neu ist der Aufschluß, daß der Zerfall nicht primär eine Folge nationaler Leidenschaft der Völkerschaften war, sondern zutiefst in der Konstruktion der Monarchie, in den Strukturen und in der Vernachlässigung von wirtschaftlichen und sozialen Faktoreil in der ganzen Monarchie lag. Die Schuld für das Ende des Doppeladlers ist also nicht irgendwo zu suchen — sondern auch in der Hofburg.

Das Werk Tapies liegt in vorbildlicher „Verpackung“ durch den Styria-Verlag vor. Vor allem aber ist es den Übersetzern aus dem Französischen, nämlich Gerald und Uta Szyszkowitz zu danken, daß dieses an sich wissenschaftliche Opus eine überaus lesbare, zugängliche und faszinierend-spannende Lektüre geworden ist.

DIE VÖLKER UNTER DEM DOPPELADLER — Die Geschichte der Donaumonarchie von Victor-Lucien Tapie. Mit einem Vorwort von Adam Wadruszka, 416 Seiten, Leinen, S 495.—.

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