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Vom Umgang im Ubergang

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Im öffentlichen wie im privaten Leben geht es nicht darum, den anderen in Ruhe zu lassen, sondern um eine Gemeinschaft gegenseitiger Achtung und Anerkennung.

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Im öffentlichen wie im privaten Leben geht es nicht darum, den anderen in Ruhe zu lassen, sondern um eine Gemeinschaft gegenseitiger Achtung und Anerkennung.

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Egon Friedeil diagnostiziert in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit” für gewisse Perioden des gesellschaftlichen Wandels „Grobianismus” als Verhaltensmuster. Friedrich Torberg hat unserer Zeit bezeugt, daß „eben alles ordinärer geworden ist”. Uns allen ist bewußt, daß wir in einer Zeit des Ubergangs leben.

Wir sind da und dort freier und gleicher geworden, aber nicht höflicher. Es kam zu einem Abbau der Distanzen, der Obrigkeits-, der Autoritätsmentalität. Uber neue republikanische Gesinnungen kann man sich freuen. Ebenso über die Befreiung von überflüssigen Äußerlichkeiten und Floskeln.

Aber der Umgang von Menschen mit Menschen im Alltag stimmt einen nicht besonders froh. Er ist oft so unausgeglichen wie die Menschen selbst. Sind wir brüderlicher, schwesterlicher, menschlicher geworden?

Man findet Mimosen und Grobiane nicht selten in einer Person. Man muß hier nicht gleich an Berufsgruppen denken, bei denen Grobianismus zum Hand- und Mundwerk und Entrüstung zum Rüstzeug gehört. Man betrachte sich selbst. Haben wir nicht oft an Form verloren, ohne an Substanz gewonnen zu haben?

Man schlage beim Freiherrn von Knigge nach: in Anbetracht der eigenen Schwächen, so sagt er, wird es uns nicht mehr schwerfallen, die unserer Mitmenschen „brüderlich” zu ertragen und also auch im Moralischen jenes „Gleichgewicht im Umgange” herzustellen, das im Materiellen für Glück und Frieden unerläßlich ist.

Jean Amery hat über den Zusammenhang von Toleranz und Höflichkeit und von Intoleranz und Grobianismus aufgeklärt. Er hat vor der Gewalt durch Wortund Körpersprache, vor der Gewalt gegen Sachen, vor dem Verbalradikalismus, vor dem Verbalmord gewarnt. Er hat an die Bedeutung von Formen und Formalismus für Republik und Demokratie erinnert. Beide setzen als Verfassung der Freiheit Spielregeln und Umgangsformen voraus. Man könnte sie sogar als Herrschaft von Spielregeln bezeichnen.

Spielregeln beherrschen das öffentliche und das private Leben. Im Alltag geht es darum, daß man den anderen respektiert und niemandem Schaden zufügt. Es geht um ein Verhalten, das das Anderssein des anderen akzeptiert und mit ihm in Offenheit kommuniziert. Es geht um Fairneß.

Das „Gar-net-Ignorieren”, das Sich-nicht-scheren-Mögen, um keine Scherereien zu haben, zu schimpfen und trotzdem zu kaufen und zu wählen, das ist nicht fair. Zur Fairneß gehört die menschlich richtige Reaktion auf Regelverletzungen im Alltag und die politisch richtige Reaktion auf Regelverletzungen der Politiker.

Es geht zum Beispiel nicht nur darum, gegen die Parteibuchwirtschaft zu wettern. Es geht darum, es schon zu brandmarken, wenn jemand aufgrund seines Parteibuchs oder ähnlicher Papiere überhaupt an jemanden herantritt, um Posten, Positionen, Subventionen, Interventionen und so weiter zu bekommen.

Wenn eine Partei für die Leistung und gegen die Parteibuchwirtschaft ist, dann müssen ihre Mandatare den Mitgliedern in solchen Fällen „nein” sagen. Ein Anfang wäre schon damit gemacht, wenn die Regel zur Ausnahme wird.

An einem alten Tor in Oxford stehen die Worte: „Manners make men”. Manieren repräsentieren Menschen. Benutzt sie einer bloß, um sich selber zu präsentieren, können sie Lüge und Herrschaftsinstrument werden. Höflichkeit darf nicht vom Widerschein der Sittlichkeit zum Schein werden, zur Pose der Überlegenheit, zur geregelten Gleichgültigkeit.

„Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußeren Betragens.” Dieser Satz aus Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften sagt Wesentliches. Umgangsformen sollen nicht Umgehungsformen sein. Wir müssen miteinander natürlich und ehrlich umgehen können.

Ferdinand Kürnberger sah seinerzeit überall „die österreichische Haus-, Hof- und Staatspflicht: nicht zu sein, sondern zu scheinen”. Er würde sie wohl heute auch sehen.

Im Umgang miteinander geht es nicht darum, den anderen in Ruhe zu lassen und ihm Ruhe zu geben, sondern um eine Gemeinschaft der gegenseitigen Achtung und Anerkennung. Dazu gehört das Bestreben — wie es John Locke verlangte —, gegen niemanden Verachtung und Geringschätzung im Umgang zu zeigen.

Von den Uberzeugungen eines Menschen sind diejenigen zu respektieren, die sich insbesondere auf seine eigenen Vorzüge oder die Verdienste seiner Gruppe beziehen, wie es Bertrand Rüssel forderte.

Arthur Schopenhauer verglich die menschliche Gesellschaft mit Stachelschweinen, die sich drängen, um sich aneinander zu wärmen, aber sich doch voneinander fernehalten müssen, um einen nicht mit ihren Stacheln zu verletzen. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, ist bei Schopenhauer die menschliche Höflichkeit. Abstand als Anstand.

Bei vielen Diskussionen muß man an Elias Canettis Feststel-

„ ... Menschen sprechen zueinander, aber ihre Worte sind Stöße ...” lung denken: „Ich begriff, daß Menschen zwar zueinander sprechen, aber daß ihre Worte Stöße sind, die an den Worten der anderen abprallen, daß es keine größere Illusion gibt als die Meinung, die Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen den Menschen...” Martin Buber sprach von der „Zergegnung der Beziehungen”.

Bei vielen Diskussionen ist heute die Abhängigkeit vom „Ganzen” durch Rollenzuteilungen von vornherein schon festgelegt. Es kommt deshalb so oft zu einer Aneinanderreihung von voneinander unabhängigen Wörter- und Körpersprachen. Das Leben wird zum modernen Theaterstück. Daher ist es oft besser, zu schweigen, als in einer solchen Diskussion zur Aufeinanderfolge von Monologen noch den eigenen dazuzugeben.

Hanna Arendt hat, Aristoteles leicht verändernd, festgestellt: „Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.” Aber sind wir zum Gespräch fähig?

Nur durch das Gespräch kann Vertrauen entstehen und jenes gute Klima, das für die Demokratie so wichtig ist. Daher müssen wir schon als Kinder und Schüler lernen, Gespräche zu führen, fähig zu werden, einen Sachverhalt anzuschauen, um von ihm zu lernen. Wir müssen viel mehr als bisher den Umgang mit anderen durch Sprache und Praxis lernen und lehren.

Nur so wird es möglich, sich vom eigenen Vorurteil zu lösen und mit Unvoreingenommenheit und Geduld auf die anderen einzugehen. Auch das Gespräch ist heute komplizierte Mühsal.

Der Autor ist Professor für Rechtslehre an der Universität für Bodenkultur und ÖVP-Landtagsabgeordneter und Gemeinderat in Wien.

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