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Wege und Irrwege

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Mit 120 T6ilaehiner(iimen) aus achtLändemwardieöstei> reichische Volkskimdetagung, die kOizhch in Graz stattfand, ein kleiner Kongreß. Groß war die Bandbreite der sechsundzwanzig Referate: Von Versuchen, den Begriff “Volksfrömmigkeit“ zufassen, über Werkstattberichte bis zu Ausdrucksformen, die als Inbegriff populärer Religiosität gelten (Stichworte: Fronleichnam, Wallfahrten, heilige Gräber).

Die Rehgionsethnologie als Be-Echäftigvmg mit dem Frömmigkeitsleben im kulturellen Kontext und im Wandel der Sozialstruktur ist eine Erfindung skandinavischer Wissenschafter. Sie haben schon um die Jahrhundertwende bei verschiedenen Konfessionen und Freikir-

chen geforscht. Heute interessieren sie sich, wie der Ethnologe Nils-Arvid Bringčus explizierte, für Sonntagsheiligung, TeufelsgläUben, persönhche Erlebnisse bei der Konfirmation oder die Rolle der Taufe in dermodemen Gesellschaft Brin-gėus forderte internationale imd interdisziplinäre rehgionsethnolo-gische Forschungen für die Zeit nach dem Kongreß.

Paul Rachbauer vom Vorarlberger Landesmuseum beschäftigt sich mit dem gegenwärtigen Wallfahrtsbrauchtum. Er konftatiert Verunsicherung im Sog des epochalen Wandels der Lebenswelt und beobachtet zwei Reaktionen: “Die Flucht nach hinten in Tradition md Traditionalismus und die Flucht nach vorne, in behebige Frömmigkeitsformen“. Die Wallfahrt von 10.000 Vorarlbergem in die Schweizer Einsiedelei vonBruder Klaus ist neu. Der 1947 heiliggesprochene Nikolaus von Flüe lebte im Spätmittelalter. Die Verbindimg von Mystik und Pohtik macht ihn zu einem modernen Heiligen - und seine Kllause zum Anziehungspunktwohlorganisierter Pilgerscharen.

Neue Moden, deren Geistigkeit auf barocken imd romantischen Traditionen beruht, stellten die Volkskundler Herbert Nikitsch aus Wien und Ingo Schneider aus Innsbruck vor. Nikitschs Thema war der “Schriftverkehr mit dem Hinunel“, eine junge Form schriftUcher Devotion. In den Fürbittbüchem, die in vielen Kirchen aufliegen, fand er alle Nöte der Existenz, “ein Negativabdruck des Alltags“ und deren gläubige Anheimstellung. Die häu-figs(|p Anliegen decken sich mit Schneiders Ergebnissen über “Struktur und Intention von Gebe tserhörungen“: Gesundheit, Erfolg in Schule imd Beruf, Lösung famihärer Probleme. Gebetserhö-rungen haben nicht nur Zeugnis-und Dankcharakter. Der Referent zeigte auf, daß es sich häufig um Auftragsproduktionen handelt, die Heiligsprechungsprozesse vorantreiben sollen.

Alois Döring vom Amt für Rheinische Landeskunde in Bonn wählte Extrembeispiele für “Aspekte der Volksfrömmigkeit nach dem Zweiten Vatikanum“: die (keineswegs geschlossene) Front der TraditionaU-sten in ihrem Kampf gegen den “Zeitgeist“ (Stichworte: Liturgiereform, Teufelsglaube, Modemismus) und die christhchen Öko- und Friedensinitiativen. “Franziskus in Wackersdorf“ zeigt, daß auch “Frömmigkeitsrituale im Widerstand“ nicht ohne traditionelle religiöse Zeichen auskommen.

Olaf Bockhomleitetam Wiener Volkskundeinstitut ein Proseminar zur Wendezeifc-Frömmigkeit Christliches wirkt da zumeist in homöopathischen Dosen. Hiemender Recherche in Wien waren unter anderem “Zwischen Trendwende und Traditionalismus“, “Hildegard hat geholfen“, “Glaube und Geschäft“, “Bio- und Gesundheitswelle als Religionssiu> rogat“. Angesichts von sechs Prozent Marktanteil esoterischer Literatur, Druiden- und Hexenschulen sieht Bockhom in der “emstzunehmenden Suche der vielen nach Wahrheit ein Geschäft für wenige“.

Ronald Lutz aus Frankfurt beschäftigte sich mit “Naturverbundenheit, Körperkultur und Remy-thologisierung “. Jogging wird nicht nur von Tiefenpsychologen als Ersatzreligion bezeichnet. Dafür spricht schon der missionarische Eifer der Dauerlauf er und ihr Vo-

kabular. Die freie Natur wird als “Kirche Gottes“ bezeichnet, der Langlauf mit dem Lebenslauf verglichen und als “Eintauchen in eine andere Welt“ in eine kosmische Dimension, erlebt. Die entinstitu-tionalisierte ReUgion kennt aller-dingskeihsozialesEngagement Das Evangehum der “neuen Volksfrömmigkeit“ - “Wahr ist, was ich spüre“ - findet eine Parallele in der Betonung der Glaubenserf ahnmg in Er-weckungsbewegungen Auch dort gilt, wie der norwegische Ethno-folklorist Ileimund Kvideland formuliert, ein Zeugnis als echt, “wenn es aus dem Herzen, nicht aus dem Kopf kommt“. Ist das nun Magie? Religion? Oder gar VolksreÜgion?

Leander Petzold vom Innsbrucker Volkskunde-Institut hat Charakteristika magischen Glaubens herausgearbeitet. Magisches Denken ist irrational abernicht primitiv. Es geht von der zwingenden Kraft des Ritus aus, will die Gottheit nötigen, Magie besteht auf jeder Ebene der mk>demen Gesellschaft, ebensowenig kommt traditionelle Volksfrömmigkeit ohne sie aus. Petzold versteht Magie als “Barometer des sozialen Druk-kes“ und zitiert “Volksfrömmigkeit in ein System zubringen, heißt, vorüberziehende Wolken in einen Bilderrahmen fassen.“

So mußte auch auf die-serTagung Volksfrömmigkeit Undefiniert bleiben. Christoph Daxelmüller vom Volkskunde-Institut in Freiburg hegt angesichts der unterschiedlichen “jeweils mundgerechten Definitionen von Volk“ berechtigte Zweifel an der Existenz einer eigenständigen Volksfrömmigkeit Er legte dar, daß sie nicht als Sache, sondem bloß als ehtäres Wahmeh-mungskonstrukt existiert

Resümee: “Frömmigkeit als christHche Lebensform besitzt einen Ganzheitsaspekt als Haltung des Menschen Gott gegenüber, als positiv sittUches Verhalten denMitmen-schen und der Schöpfung gegenüber. Äußerer Frömmigkeitsvollzug kann nie Frömmigkeit garantieren. Fromm sein kann man auch ohne Volksfrömmigkeit“.

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