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Wochenende in der Stadt

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Samstag, eine Stunde nach Ladenschluß: Autos lösen sich aus ihren Parkplätzen. Die Lük-ken bleiben frei, vergrößern sich in kurzer Zeit. Die Straße atmet auf, dehnt sich von einer Häuserreihe zur andern, wird als Raum erfaßbar und nicht nur als Weg. Der Lärm verebbt, die Luft wird leichter. Bald wird man spüren, daß Wälder und Hügel nicht fern sind.

Wer das Wochenende in der Stadt verbringt, kann seine Sinne spazierenführen. Es gibt mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu riechen; und das eine bewirkt das andere. Wenn der Lärm wie ein Vorhang weicht, kommt die Geräuschkulisse zum Vorschein. Ihre klar konturierten Detaüs ergeben das Sonntagskammerensemble: Glockengeläute, das sich aus grünen und grauen Türmen schwingt, Taubengurren auf den Dächern, Vogelgezwitscher in den Parks, das zierliche helle Stakka-to des Getrappels der Fiakerpferde auf dem Asphalt, das noch hellere, schärfere der Bleistiftabsätze, und das Echo davon, das die Fassaden einander zuwerfen, Menschenstimmen, unterscheidbar in männlich, weiblich und kindlich, und dazu als basso conti-nuo das sanfte, dunkle Schnurren der Autos.

Schlendernd kann man Straßen überqueren. Kein herdenhaftes, demütigendes Warten an Randsteinen, einen halben Meter vom Tod entfernt. Kein Gejagtwerden und Hakenschlagen und AufAmpeln-Starren. Die Blicke können schweifen und sich in die Höhe schwingen, wohin sie sonst nicht kommen. Mit den Autos hat auch ein Teil der Hunde die Stadt verlassen. Die Gehsteige sind daher sauberer als sonst, und man kann unbekümmert ausschreiten.

Unerschöpflich ist die Fülle architektonischer Details von den Dachrinnen aufwärts. Was da sich noch übereinanderschachtelt, ergibt eine phantastische Oberstadt, ein Knospen und Sprießen der Dächer, die immer wieder in Fenster und Türen und kleine Terrassen aufbrechen, bis sie sich endlich entschließen, ihre unruhige Silhouette gegen den Horizont zu begrenzen.

Die Kaffeehäuser und Parks gehören sonntags den alten Menschen, und die großen Rasenflächen, auf denen sonst die Studenten lagern, den Gastarbeitern. Hier spielen die Männer mit den Kindern Ball, während die Frauen mit Picknickkörben an den Rändern sitzen. Das Zentrum der Innenstadt ist von Touristen besetzt. Ihr Sprachengewirr, ihre Neugier und Urlaubsfreude erfüllen die vertraute Umgebung auf angenehme Weise. Man braucht nur eine Gasse weiter zu gehen, und schon ist man dem Wirbel entronnen, und Stille breitet sich aus. Es ist keine dörfliche Stille, dazu fehlen die Laute der Natur. In der Sonntagsruhe liegt die Stille der Vergangenheit.

Noch ein Sinn wird geweckt, der keinen eigenen Namen hat, und der sich wahrscheinlich erst durch die Wachheit aller anderen Sinne entfaltet: die alten,historischen Strukturen werden fühlbar. Es ist mehr ein Verstehen als ein Wissen um das, was wir unter den Füßen haben: das Versunkene. Wie verschüttetes Mauerwerk auf einem Feld, gesehen aus der Vogelperspektive, taucht die Vergangenheit der Stadt schemenhaft auf. Plötzlich spüren wir die Märkte, Stadttore und Basteien, die begrabenen Bäche, Wiesen und Weingärten.

Wo wir zum ersten Mal hinkommen und das verblüffende Deja-vu erleben, berühren wir die Luftwurzeln, die aus unserer inneren Welt dorthin gewachsen waren. Wo wir ganz fremd sind, können wir nur aufgerissenen Auges staunen, ratlos, wie das Gesehene in der Seele unterzubringen sei.

Sonntag abends, wenn die Stadtflüchter zurückkommen und es wieder eng und laut und übelriechend wird, müssen wir die Feineinstellung unserer Sinne wieder auf Grobeinstellung reduzieren, um die nächste Woche heil zu überstehen.

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