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Wos waß a Fremder

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Was kann man schon auf 55 Maschinschreibzeilen über das österreichiscKe Fernsehen sagen? Da SSO nicht ausreichen würden, diesem wichtigsten Kunst- und Informationsmittel unserer Zeit gerecht zu werden? Ausstellungen und Konzerte kann man meiden, nicht das TV, das da ist: Brücke zur Außen- und Mitwelt, Bühne von all derer Äußerungen, Ventil alter ihrer Impulse. Daher auch nirgends so viel ästhetischer Dilettantismus, Zersplitterung von Einfällen, ideologische Verwirrung. Was isfs? Jahrmarkt der Eitelkeiten, Werkstatt für allerlei politische Falschmünzer? Wem und was immer da Raum und Laut gegeben wird, erhält als-gleich mehr und allgemeinere Bedeutung als sonstwo —.

Zum Beispiel: Der arabische ölkrieg gegen die ganze übrige Welt wurde dort unlängst nachträglich in eine Verschwörung der multinationalen Konzerne „umdokumentiert“.

Ganz anders und brutaler als bisher durch die Presse wurden dort neuerdings die Intimsphären der Menschheit bloßgelegt.

Zum Beispiel: Bis ins letzte Detail gezeigte Darstellungen der Geburt eines Menschen. So etwas wurde bisher auf zweierlei Weise gesehen und erlebt: von graduierten und angesehenen Gynäkologen und Hebammen als ein Handwerk, eine Wissenschaft, eine Kunst. Von der übrigen Menschheit als das größte Mysterium unseres Seins.

Zum Beispiel: Darstellung einer Massenandacht flehender, schreiender, totkranker und verkrüppelter Pilger in Lourdes, interpretiert vom ach so ranzig gewordenen Rationalismus eines Kurt Tucholsky.

Zum Beispiel: Filmaufnahmen des Geschlechtsaktes zwischen Hengst und Stute, beobachtet von zwei „wissenschaftlichen“ Volyeusen.

Zum Beispiel: Aus einem englischen Spielfilm, Verführung eines lesbischen Gigolomädchens durch eine andere Lesbierin.

Alles z'wegen der Enthemmung, Desekretisierung, Desillu-sionierung?

Ludwig Wittgenstein, Wiener, der gerade in Wien unbekannte Philosoph, vielleicht der aufrichtigste Mensch dieses Jahrhunderts, lief, wann immer er nur konnte, ins Kino zu den Wildwest- und Abenteuerfilmen. Er fand dort, was unsere Ahnen bei den Moritaten gesucht hatten, und was unser Herz heute durch die Krimiserien des Raymund Burr („Chef“), Telly Savallas (.JCojak“), Richard Widmark, Karl Maiden, „MacMillan and wife“, dem „Hawaii-05-Chef MacGarrett“ und all der anderen erfreut: Katharsis, auf Deutsch: daß irgendwo in dieser durch Geiselmörder, Flugzeugpiraten, Piratenstaaten und von diesen Industrieaufträge vnd Erdöl einhandelnde westliche Regierungshäupter verunsicherten Welt das Gute üb er das Böse siegt. Derlei mag manchen Soziologen und selbsternannten Volkserziehern nicht in ihr Konzept passen. Es muß aber etwas an den Mythen sein, wenn die Menschen sie zu allen Zeiten und Orten Immer wieder hervorbringen und sich an ihen erfreuen und stärken: Ob's das Schneiderlein mit seinen Sieben auf einen Streich, oder der Ali Baba, der Odysseus oder Sherlock Holmes war — dem sie letzthin in der von seinem Atitor erfundenen Wohnung in der Londoner Baker Street ein Museum eingerichtet haben, wo all seine Paraphernalia zu sehen sind: Jagdmütze, Caps-Mantel, Tabakspfeife, Violine und sonstiges Mobiliar.

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