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„Zores“ kann tödlich sein

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Es ist gut, daß dieses Buch jetzt erschienen ist; die Betonung liegt auf „jetzt“. Das aktuelle politische Geschehen, die Themen der Zeit: Terrorismus, Menschenrechte, Dritte Welt und wie sie noch lauten, sind der tätigen Erinnerung an „die“ zwölf Jahre nicht günstig. Derweil sind die anderen tätig, faseln (auf einer NPD-Versammlung in Göttingen) vom „entschlossenen Kampf gegen alle Volksschädlinge“, stellen „der liberalen und marxistischen Zersetzung das korporative Konzept der gesunden Volksgemeinschaft entgegen“ und propagieren aus diesem Geist des „gesunden Volksempfindens“ den „Angriff einer radikalen Weltanschauung auf das verrottete System“, womit die „westeuropäische Szene“ gemeint ist („Aktion Neue Rechte“, Wien). Die zwölf Jahre begannen lange vorher, und ihre Schatten „marschier'n im Geiste mit“.

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Es ist gut, daß dieses Buch jetzt erschienen ist; die Betonung liegt auf „jetzt“. Das aktuelle politische Geschehen, die Themen der Zeit: Terrorismus, Menschenrechte, Dritte Welt und wie sie noch lauten, sind der tätigen Erinnerung an „die“ zwölf Jahre nicht günstig. Derweil sind die anderen tätig, faseln (auf einer NPD-Versammlung in Göttingen) vom „entschlossenen Kampf gegen alle Volksschädlinge“, stellen „der liberalen und marxistischen Zersetzung das korporative Konzept der gesunden Volksgemeinschaft entgegen“ und propagieren aus diesem Geist des „gesunden Volksempfindens“ den „Angriff einer radikalen Weltanschauung auf das verrottete System“, womit die „westeuropäische Szene“ gemeint ist („Aktion Neue Rechte“, Wien). Die zwölf Jahre begannen lange vorher, und ihre Schatten „marschier'n im Geiste mit“.

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Es kommt nicht darauf an, ob dies alles ernst zu nehmen sei; es gut festzuhalten, daß solche Gedanken gedacht werden, 33 Jahre nach dem Ende dessen, was 33 Macht bekam - das gut es zu bedenken. Ist es möglich, hat es Sinn, da „nur“ die Geschichte einer Famüie, einer jüdischen Famüie, „und ihrer wundersamen Errettung zu erzählen“ - eine Geschichte, die in Frankfurt spielt und deren Rückblende bei der Jahreszahl 1933 nicht stehenbleiben wül, eine Geschichte, die aus lauter Geschichten besteht, deren erste „Mama“ überschrieben ist und mit einer. Kindheitserinnerung anhebt? Es ist möglich und es war notwendig.

Das scheinbar Private war von den Ereignissen, war von Politik geprägt; es gab dieses Private im Grunde gar nicht, denn es konnte sich nicht entfalten. Aber durch die „privaten“ Not-und Angstsituationen wurde die Bedrückung physisch und psychisch erfahren, und durch die Mitteüung dieser Situationen (zuweilen wie mit einem Lächeln erzählt: Zeit heüt die Wunden) wird für den Leser erfahrbar, was uns drohen könnte - uns allen, die teühaben an dem „verrotteten System“, nicht nur den Juden -, wenn jenes Gefasel mehr wäre als eben das, aber auch, wenn es nicht genügend ernst genommen wird. Der Bericht, scheint mir, steht am Ende eines psychischen Prozesses, der erstens die lange Zeitspänne bis zur Veröffentlichung bedingte und zweitens jenen häufigen Anflug eines Lächelns bewirkte, ein Merkmal von Distanz auch zum eigenen Verhalten; doch diese Distanz und Selbstkritik heben den emotionellen und politischen Hintergrund des kunstlos, journalistisch (Senger wurde nach dem Krieg Journalist und ist derzeit Fernseh-Redakteur) abgegebenen Berichts nur schärfer ins Licht - eines Berichts, der so wahr anmutet, daß er sich auch die Wahrheit des Sentiments gestatten darf.

Valentin Senger ist der Sohn des Moissee Rabisanowitsch. Dieser Rabi-sanowitsch, aus frommer Famüie stammend, hatte gegen das Zaren-Regime agitiert und gekämpft, um die Jahrhundertwende in einem französischen Stahlwerk bei Odessa den ersten Streik organisiert, war nach der Niederschlagung der Ersten russischen Revolution von 1905 in die Illegalität gegangen, mußte fliehen und gelangte mit Hilfe von Freunden 1906 nach Berlin. Dort arbeitete er zunächst ausschließlich für die Bolschewiki; ein Jahr später traf seine Frau Olga aus Odessa ein, selber eher unpolitisch, eine Fabrikantentochter aus ebenfalls strenggläubiger Familie, die natürlich gegen die Verbindung mit Moissee war. In Berlin aber veränderte sich alles. Eine Schweiz-Reise, auf der Sengers Vater auch mit Lenin und der Krupskaja zusammentraf, brachte die Wende, über deren Hintergründe in der Famüie nie Aufklärung gegeben wurde.

Moissee Rabisanowitsch kam mit einem falschen russischen Paß nach Berlin zurück, hieß nun Jakob Senger, lebte weiter in Angst wegen seiner illegalen revolutionären Vergangenheit, suchte sie aber zu vertuschen und auch wohl zu verdrängen. In Frankfurt fand er Arbeit als Dreher; ein Problem seiner neuen bürgerlichen Existenz war er beherrschte die deutsche Sprache nicht richtig, sondern außer russisch nur das Jiddische. Das änderte sich

auch in der Hitlerzeit nicht; er hat, schreibt sein Sohn, „immer nur geji-delt“. Folglich trat er außerhalb der Familie, die sich in Frankfurt bildete -Valentin Senger, Jahrgang 1918, hat eine um ein Jahr ältere Schwester und einen jüngeren Bruder, der in den letzten Kriegstagen fiel: auf der falschen Seite, der deutschen -, kaum in Erscheinung, um so mehr aber „Mama“; sie wurde die Hauptfigur, mit der sich Valentin Senger auch in seinem Buch noch, in direkter Anrede, auseinandersetzt.

Sie inszenierte, lange bevor von einem Nazistaat die Rede war, die Tarnung. „Ich Weiß nicht, Mama, was in deinem Kopf vorging, als du beschlossen hast, deine und Papas Vergangenheit zu tilgen ... Deine Absichten mögen gut gewesen sein, aber du konntest nicht voraussehen, was du damit angerichtet hast, diese seeüschen Verwachsungen, die aus einem jahrzehntelangen Selbstverleugnen entstehen mußten, und die zu überwinden mich noch einmal Jahrzehnte kostete...“ Es wufde die Wurzel gelegt für eine verhängnisvolle „Empfindung des Gelähmtseins“; mehr und mehr, mit wachsender Bedrohung, galt es, das Verschwinden im Unscheinbar-sein, das Bloß-nicht-Auffallen zum ersten und wichtigsten Prinzip zu erheben. Mit der endlichen vollständigen Überwindung dieser Lähmung fiel zweifellos das Entstehen dieses Buches zusammen, dreißig Jahre nach Kriegsende. Diese Lähmung ist der eigentliche Kern des Buches; sie ist ein Teil des jüdischen Schicksals in der Diaspora, und eine ihrer Begleiterscheinungen war die .jüdische Anpassungsfähigkeit an jede Situation, auch noch an die schmachvollste, wenn es ums Uberleben geht“. Um ein Uberleben, das im Hitler-Deutschland für die meisten damit nicht erkauft werden konnte; Valentin Senger ist eine von den Ausnahmen - und so kann mit Recht und in doppeltem Sinne von einer „wundersamen Errettung“ gesprochen werden.

Vater Rabisanowitsch - oder Senger - hat seine Kinder in der jüdischen Tradition aufwachsen lassen. So war es selbstverständlich, daß die Knaben beschnitten wurden. Aus der Tatsache dieser rituellen Beschneidung, die für jeden Arzt als solche sofort erkennbar war, aber auch einer nur halbwegs aufgeklärten Freundin nicht verborgen bleiben konnte, sollten später mehr als einmal lebensgefährliche Situationen erwachsen; gefährdet war ja nicht nur die ganze Familie - unmittelbar bedroht waren auch etliche Mitwisser, die es ungeachtet aller Tarnung gab. Einer dieser mit der Wahrheit Vertrauten war ein Polizeimeister, der, als die politische Situation sich zuspitzte, von sich aus die Eintragung „mosaisch“ in der Einwohnermeldekartei unkenntlich machte und „Dissident“ darüber schrieb, ja Später-ohne es den Sengers zu sagen - die alte Karte vernichtete und eine neue anlegte.

Das gab es; wohl jeder in der Hitlerzeit Verfolgte kann Beispiele davon erzählen. Was es aber nicht gab, war das nach dem Krieg vorgetäuschte Ausmaß der Ahnungslosigkeit über die Absichten Hitlers und das Schicksal der Juden.

Das „Jideln“ des Vaters, auch die Versuchungen - zumindest am Anfang der Nazizeit, als das ganze Ausmaß der Bedrohung noch verborgen war -, immer wieder einmal „den Helden zu spielen“ und die wahre Gesinnung zu

zeigen, waren weitere Quellen angstbesetzter Situationen, so daß ein Ausspruch der Mutter zum geflügelten Wort wurde: „Haben wir nicht schon genug Zores?“ Natürlich hörte man auf die Mutter, sie hatte ja recht. Nur keine Zweifel an dem politisch-pathetischen Nonsens äußern, den die Lehrer verzapften, nur nicht widersprechen (vor allem nicht den Haßtiraden gegen die Juden), um alles in der Welt nicht auffallen - sein ganzes Leben, schreibt Senger, sei von diesem Im-mer-nur-dulden, diesem Nichtaufbe-gehren geprägt worden. Die Maske wurde dennoch nicht durchgehalten -und das hat nichts mit eitlem Heldentum zu tun; es hat psychologische Gründe. Wenn Angst zum Dauerzustand, zur Gewohnheit wird, verschwindet sie - zumindest zeitweise -aus dem Wachbewußtsein, und es bildet sich etwas ganz und gar Widersinniges heraus: die scheinhafte Versuchung, wie ein „normaler Bürger“ zu leben, ein sträflicher, durch keinerlei Vernunft kontroUierter Leichtsinn. Senger bringt dafür anschauliche Beispiele. Zwar mag ein von ihm zitierter Börsenmakler Oppenheimer, der „Hitler für einen großen Staatsmann hielt“ und alle Möglichkeiten, Deutschland zu verlassen, mißachtete, bis er ins KZ abtransportiert wurde, mit dieser Ansicht eine Ausnahme-Erscheinung gewesen sein, aber die tödliche Verkennung der Realität war alles andere als selten.

Für den rassekundlichen Unterricht mußte ein Familien-Stammbaum gezeichnet werden“. Bei einem der Wahrheit nahekommenden Stammbaum wären dem Biologielehrer die Augen übergegangen; in der väterlichen Linie, von der Ukraine ausgehend, hätte, so Valentin Senger, an vielen Stellen vermerkt werden müssen: „Erschlagen, erstochen, vergewaltigt und dann erdrosselt vom aufgehetzten Mob und von Soldaten der Schwarzen Hundertschaft“ (einer berittenen Elitetruppe des Zaren). In penibler Arbeit wurde von der FamiUe ein künstliches Gebilde geschaffen - und das muß ein wahres Meisterstück gewesen sein, denn es wurde zur wichtigsten Grundlage der Tarnung. Waren die Bedroher wirklich so dumm? Das verbrecherische System Nationalsozialismus ist wohl ohne die Annahme einer gehörigen Portion Dummheit seiner Mitläufer gar nicht begreifbar. Valentin Sengers Biologielehrer jedenfalls war beglückt über den falschen Stammbaum, hielt einen Zirkel an den Kopf des jungen, rein jüdischen Valentin, begann zu rechnen und Tabellen zu studieren und verkündete der Klasse dann mit Stolz auf seine Arbeit: t,Senger - dinarischer Typ mit ostischem Einschlag, eine kerngesunde arische Rasse.“

Dergleichen gehört zu den heiteren Passagen des Buches; unnötig zu betonen, daß sie nur aus heutigem Bückpunkt erheiternd sind ... Auch die Zeichnung der Typen aus der Frankfurter Kaiserhofstraße gehört dazu und die eine oder andere Liebesgeschichte - sie sind alltäglich und doch wieder nicht. Eine ist mit Untergrundtätigkeit verbunden (Zettel mit Anti-hitlerparolen ankleben, Flugblätter in Briefkästen stecken), und bei allen spielt die Angst vor dem Entdecktwerden eine Rolle, die Sorge, daß die FamiUe verraten werden könne. Valentin Senger ist kein Dichter, seine Erzählung keine Fiktion. Man kann dieses Buch nicht unter Uterarischen Kategorien zur Kenntnis nehmen und beurteilen, sondern „nur“ unter menschhehen und poUtischen; das meint wohl der Verlag, wenn im Klappentext bemerkt wird, daß „ohne professioneUe Attitüde“ erzählt werde. Im Grunde aber empfinde ich eine solche Bemerkung als überflüssig. Das Buch ist „professioneU“, indem es eine notwendige Funktion erfüllt: es dient der Erinnerung - an eine Zeit, die nicht vergessen werden darf, heute und in Zukunft nicht.

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