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Zulehner: Wie Europa lebt und glaubt

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Die wichtigsten Erkenntnisse aus den Europäischen Wertestudien stellte der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner beim diesjährigen Forum Ostarrichi vor.

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Die wichtigsten Erkenntnisse aus den Europäischen Wertestudien stellte der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner beim diesjährigen Forum Ostarrichi vor.

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□ Europa sei nicht gottlos, atheistisch, unreligiös, also auch nicht säkularisiert. Vor die Möglichkeit gestellt, zwischen religiös, unreligiös und atheistisch wählen zu können, entschieden sich in den untersuchten europäischen Ländern insgesamt 57 Prozent für religiös, lediglich fünf Prozent für atheistisch (siehe Graphik). Laut Zulehner stellt sich für die Kirchen die Frage, „warum sie dennoch so gerne von der Säkularisierung reden”. In der Religionssoziologie werde dieser Deutungbegriff spätestens seit 1973 in Frage gestellt. In kirchenamtlichen Texten erfreue er sich dennoch ungebrochener Beliebtheit.

□ Unter religiös sei jedoch nicht immer christliche Religiosität gemeint. So glauben etwa 19 Prozent in Europa an die Reinkarnation. Die Vorstellungen der Auferstehung von den Toten mit Leib und Seele können auch nur 30 Prozent teilen.

□ Die Ergebnisse zwingen neben der Unterscheidung zwischen religiös und christlich zu einer dritten Unterscheidung, nämlich kirchlich. Europa selbst sei nicht unkirchlich, gehören doch 69 Prozent der Menschen in Europa offiziell einer Kirche an. Das Kirchenverhältnis selbst ist different: Hohes Vertrauen gehe einher mit der Ablehnung eines kirchlichen Einflusses in die private Lebensgestaltung.

Zulehner: „Das Fernbleiben vom Gottesdienst bedeutet nicht, daß es hohe Erwartungen an die Kirchen gibt und daß soziales und politisches Engagement vielfältiger Art gewünscht wird.”

Die Freiheit stärken

Auch wenn sich das Handeln der Kirchen nie aus Fakten allein ergebe, lassen sich jetzt schon einige Fragen formulieren:

□ Wird es nicht Aufgabe der christlichen Kirchen sein, die religiöse Selbsteinschätzung der Menschen emster zu nehmen und die selbstlose Stärke aufzubringen, auch jenes religiöse Suchen zu stützen, das nicht in Kirchenmitgliedschaft und Teilnahme einmündet?

□ Müssen nicht die christlichen Kirchen mehr als bisher die urpersönliche religiöse Erfahrenheit der Menschen fördern? Zulehner erinnerte - in Anlehnung an Karl Rahner - an notwendige mystagogischen Kirchen.

□ Mystik (und Mystagogie) müßten einen Vorrang vor der Ethik als auch vor der Politik haben. Denn bei den Menschen seien durchaus moralische Orientierungen vorhanden. Wenn Menschen gegen diese Orientierungen handeln, dann oft auch aus Angst. Es wäre gut, so Zulehner, „der Angst entgegenzuwirken durch Stärkung der Person, ihrer Freiheit, ihrer Gläubig-_, keit, weil nur so ein Handeln aus solidarischer Liebe möglich werde”.

□ Die Kirchen könnten für viele Institutionen Vorhutarbeit leisten: Indem sie der Spannung zwischen unbeugsamer Treue zum Evangelium und dem unbeugsamen Respekt vor der Freiheit des Menschen entschärfen. Indem die Kirchen die Freiheit der Menschen nicht nur achten, sondern auch fördern. Für das Europa von morgen wäre dies ein Segen: „Denn nur aus erstarkter Freiheit werde jene belastbare Solidarität erwachsen, ohne die es in Europa keine Zukunft geben wird, die gekennzeichnet ist von Gerechtigkeit und Frieden”, so der Pastoraltheologe Zulehner.

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